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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild
Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

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Friedrich v. Bodelschwingh: Ein Lebensbild

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Solche Erfahrungen machten es immer mehr zu ihrem inneren Besitz und Grundsatz, durch keine Verlegenheit verlegen zu werden und durch keine Verdrießlichkeit verdrossen. „Es ist alles gut, was wir nicht selbst verschuldet haben”, pflegte sie oft zu sagen; und wo etwas besonders Schweres kam, sagte sie: „Gott hat gewiß etwas besonders Gutes damit im Sinn.” Darin war sie vollkommen eins mit ihrem Mann, der von Natur noch glücklicher veranlagt war als sie und an dem alle, die mit ihm in Berührung kamen, mit einer unbegrenzten Liebe emporsahen.

Schon ein halbes Jahr nach seinem Amtsantritt schrieb Professor Clemens Perthes in Bonn: „Ich fand in Koblenz viel verändert; statt des alten guten, aber schwachen P. einen jungen überaus kräftigen Mann als Oberpräsidenten, der mit eigener Hand überall eingriff und schon ein gutes Maß Schmutz aus dem alten Schlendrian aufgewühlt hat. Bodelschwingh ist aus Vinckes Schule, ebenso kräftig und sorgsam, aber gewiß viel besonnener als dieser, dabei von einem schönen, männlichen Äußeren, Meister in allen körperlichen Übungen, Ritter des Eisernen Kreuzes 1. Klasse. Durch sein einfaches Auftreten paßt er ganz vorzüglich für die Rheinlande, denen wohl nicht leicht ein größerer Verlust zugefügt werden könnte, als wenn der Oberpräsident wirklich, wie es heißt, Finanzminister werden sollte. Es muß eine Lust sein, unter Bodelschwingh zu arbeiten.” In der Tat gelang es der hingebenden Treue und Umsicht Bodelschwinghs im Bunde mit seinen von ihm hingerissenen Mitarbeitern, die rheinische Provinz, um die Frankreich mit so heißen Bemühungen geworben hatte, wieder fest mit dem Mutterlande zu verknüpfen.

Auch die Verhaftung des Cölner Erzbischofs von Droste-Vischering, die er infolge des Mischehen-Streites auf Befehl der Krone persönlich zu vollziehen hatte, konnte dem evangelischen Mann das Vertrauen der meist katholischen Rheinländer nicht entziehen. So tief waren alle trotz unvermeidlicher sachlicher Differenzen von der Rechtlichkeit seiner Person überzeugt.

Berlin. 1842 – 1848

Nach achtjähriger Tätigkeit in Koblenz wurde Ernst v. Bodelschwingh 1842 zur Leitung des Finanzministeriums nach Berlin berufen. Er hatte eigentlich schon damals das Ministerium des Innern übernehmen sollen, den wichtigsten Posten im preußischen Staate, doch hatte er es beim König durchgesetzt, ihm das Finanzministerium zu geben, dem zu jener Zeit noch außer den eigentlichen Finanzfragen ein großer Teil der Aufgaben unterstellt war, die später von dem Ministerium des Handels und der öffentlichen Arbeiten erledigt wurden. Die Erfahrungen als Landrat und in den verschiedenen Ämtern der Rheinprovinz hatten ihm gerade diese praktischen Gebiete besonders vertraut gemacht. Aber das Losreißen in Koblenz war sauer. Und nicht nur dem Oberpräsidenten wurde der Abschied von seiner ihm so ans Herz gewachsenen Provinz schwer, sondern auch seiner ganzen Familie. Der Rhein hatte es ihnen allen angetan. Und als der damals elfjährige Friedrich längst zum Mann und Greis geworden war, hörte man ihn noch manchmal vor sich hinsummen:

An den Rhein, an den Rhein,Zieh’ nicht an den Rhein,Mein Sohn, ich rate dir gut.Da geht dir das Leben so lieblich ein,Da blüht dir so freudig der Mut.Siehst die Mädchen so frankUnd die Männer so frei,Als wär’s ein adlig Geschlecht.Gleich bist du mit glühender Seele dabei,So dünkt es dich billig und recht.

Während der Vater mit den älteren Kindern schon nach Berlin vorausgeeilt war, reiste die Mutter mit den jüngeren Geschwistern hinterher. Schon seit Jahren war Karl, der um zwei Jahre ältere Bruder Friedrichs, leidend, und der kleine Friedrich hatte während der Reise nicht nur den Kanarienvogel, der in seinem Käfig an der Decke des Wagens hing, und die Meerschweinchen, die in einer Kiste mitgeführt wurden, zu versorgen, sondern auch als Krankenpfleger dem leidenden Bruder Handreichungen zu tun. Nach zehntägiger Fahrt in der Postkutsche wurde die neue Heimat erreicht und das Finanzministerium, das bis heute, wenn auch in veränderter Form, auf demselben Platze am Kastanienwäldchen steht, bezogen.

Von da war es ein kurzer Weg zum Joachimstalschen Gymnasium in der Burgstraße jenseits des Lustgartens. Die Aufnahme ging glatt vonstatten. Aber als es vom Lateinischen zum Griechischen vorwärts gehen sollte und das Gymnasium mit den außerordentlichen Ansprüchen an höchste Leistungen auf dem Gebiete der klassischen Sprachen auch an den kleinen Quartaner und Tertianer herantrat, da bedurfte es der größten Anspannung der Willenskraft, um das geforderte Ziel notdürftig zu erreichen. Erst nach zwei Jahren gab es ein Aufatmen. Statt des Finanzministeriums übernahm der Vater das Kabinettsministerium und im Jahre darauf außerdem auch noch das Ministerium des Innern. Damit war ein Wohnungswechsel verbunden, erst in die Wilhelmstraße, dann in die Straße Unter den Linden. Jetzt war der Weg zum Joachimstalschen Gymnasium zu weit geworden, und Friedrich bezog mit seinen Brüdern das damals in der Kochstraße gelegene Friedrich-Wilhelms-Gymnasium. Mit wachsender Lust, unter verständnisvollen Lehrern, ging es an die Arbeit, und lange, nachdem er die Schule verlassen hatte, verfolgte ihn das Heimweh nach den Bänken seines lieben Friedrich-Wilhelms-Gymnasiums.

In der Freizeit wurde, wie einst in Koblenz, geturnt, geschwommen, gerudert und Schlittschuh gelaufen. Jetzt kam auch das Reiten hinzu. Einmal freilich setzte Cora, das Reitpferd seines Vaters, den jungen Friedrich im Tiergarten ab und trabte ohne ihn durch das Brandenburger Tor nach Hause. Von den älteren Brüdern lernte er das Fechten, das er so lieb gewann, daß er bis zum Jahre 1854 sich nicht von seinem doppelten Fechtzeug mit Rapier, Schutzhaube und Bandagen trennen konnte. Und zeit seines Lebens führte er über seinem rechten Auge einen Denkzettel mit sich in Gestalt einer Narbe, die ihm sein kleiner Bruder Ernst geschlagen hatte. Seiner Überlegenheit sicher, hatte der ältere Bruder, ohne sich durch Bandagen zu schützen, dem jüngeren das scharfe Rapier in die Hand gedrückt, und dieser, nicht faul, hatte ihm im kühnen Dreinschlagen den Hieb gerade über dem Auge beigebracht.

Bald kam auch das edle Weidwerk hinzu. Der König hatte seinem Minister für die Stunden der Erholung vor den Toren Berlins ein Jagdgebiet zur Verfügung gestellt. So liefen denn die Söhne hinter dem Vater her, erst um das geschossene Wild zu tragen, dann um auch selbst die Flinte in die Hand zu nehmen. Auf Hasen und Hühner wagte Friedrich den Schuß, aber auf den Rehbock nur ein einziges Mal. Die Augen des verendenden Tieres hatten es ihm angetan. Seitdem konnte er nicht wieder darauf anlegen.

Noch größer waren die Freuden der gemeinsamen Wanderungen mit dem geliebten Vater oder auch allein mit den Brüdern und Freunden. Dem Vater waren von Jugend auf weite Märsche Lust und Erholung gewesen. Noch vor den Freiheitskriegen war er einmal von Berlin nach Westfalen zu Fuß gegangen. Zugleich mit der Post hatte er Berlin verlassen, und eher als die Post hatte er die Heimat erreicht. Später, als Student in Göttingen, war er in einem Tage auf den Brocken gegangen, hatte dort am andern Morgen den Sonnenaufgang erlebt und war noch am selben Abend wieder in Göttingen gewesen. Zehn Meilen hin, zehn Meilen zurück, d. h. etwa 150 Kilometer in zwei Tagen. Als Referendar war er sogar einmal in elf Wochen von Westfalen durch Süddeutschland und die Schweiz an die oberitalienischen Seen bis Mailand gewandert und wieder zurück, ohne irgend ein Gefährt unter den Füßen zu haben als nur auf den schweizerischen und italienischen Seen das Deck der Schiffe, die ihn von einem Ufer zum andern trugen. So gab es auch jetzt mit den heranwachsenden Söhnen unter frohen Liedern eine Reise über Rheinsberg und Hohen-Zieritz mit den Erinnerungen an Friedrich den Großen und die Königin Luise nach der Insel Rügen. Eine Fußreise nach Süddeutschland machten die Brüder zusammen mit einigen Freunden ohne den Vater. 87 deutsche Burgen wurden begrüßt oder bestiegen, und in sieben deutschen Strömen bis hinunter zum Neckar wurde gebadet.

Unter solchen Freuden glitten die schalen Vergnügungen der Hauptstadt fast unbeachtet an Friedrich vorüber, zumal schon damals weitere und engere Freundschaftsbande ihn ganz in Anspruch nahmen. Schon als Quartaner auf dem Joachimstalschen Gymnasium war er für einen fälschlich angeklagten Klassengenossen, Gustav Bossart, eingetreten. Ritterlich war er zum Direktor vorgedrungen und hatte sich, wenn auch unter lautem Schluchzen, für die Redlichkeit des Beschuldigten verbürgt. Das hatte ihm zugleich das Herz des Direktors und seines Kameraden gewonnen.

Bald darauf erschütterten tiefe Zweifel an der Güte Gottes das Herz des jungen Bossart. Während sie unter dem Sternenhimmel miteinander dahingingen, gestand er sie seinem Freunde Friedrich. Es handelte sich um das alte Problem des ewigen Gerichtes und der ewigen Gnade. Was konnte Friedrich sagen? Das Firmament strahlte zu ihnen herunter, und während er sein Auge aufhob, kam es über ihn wie eine Erleuchtung: Ist nicht beides gleich unfaßlich, die Endlichkeit und die Unendlichkeit des Himmelsraumes? Wenn es mir wirklich gelänge, bis an sein Ende zu kommen, was würde ich dann jenseits seines Endes erblicken? „So”, sagte er seinem Freunde Bossart, „ist es auch mit den Fragen, die dich bewegen. Sie lassen sich beide nicht zu Ende denken. Es gibt im Reich der Gnade und im Reiche der Natur eine Grenze, die dem menschlichen Geist gesteckt ist, bei der das Denken aufhört und der Glaube anfängt, der, ohne die letzten Dinge ergründen zu können, Gott traut.” – Mit unermüdlicher Treue hat der Knabe, der Jüngling und der heranreifende Mann an dieser Freundschaft festgehalten; und wir werden ihr später noch einmal begegnen.

Unter den Häusern, die denen Bodelschwinghs besonders verbunden waren, stand obenan das Haus des damaligen Generals v. Diest. Der General war der einzige noch überlebende Bruder der Ministerin. Nach der Schlacht bei Auerstedt, an der er als junger Offizier teilnahm, hatte er sich überzeugt, daß nur von Osten her die Befreiung Preußens kommen konnte. So war er über Holland nach Rußland gegangen und in russische Dienste getreten. Als Vermessungsoffizier hatte er der russischen Armee ausgezeichnete Dienste getan, hatte die Feldzüge 1812 und 13 auf russischer Seite mitgemacht und war schließlich so sehr in das Vertrauen des russischen Kaisers hineingewachsen, daß dieser alle Mittel aufwendete, um ihn in seiner Armee zu behalten. Aber er konnte außerhalb der Luft seines befreiten Vaterlandes nicht leben. In preußische Dienste zurückgekehrt, war er schließlich Generalinspekteur der Artillerie geworden und lebte jetzt als „der schöne Diest”, wie die Berliner Jungen ihn nannten, in Berlin. Er war in der Tat eine hervorragend schöne Erscheinung, aber in dem stattlichen Manne lebte ein kindlich frommer, demütiger Sinn, der ganz mit dem Geist seiner Geschwister Bodelschwingh übereinstimmte. Seine drei Kinder standen in gleichem Alter mit den älteren Kindern des Hauses Bodelschwingh, und so oft die beiden Geschwisterkreise sich zusammenfanden, was jede Woche mehrmals geschah, gab es das fröhlichste Leben. „Denn die Diests konnten lachen aus dem Effeff.”

Zu dem innersten Freundeskreis gehörte in den ersten Berliner Jahren besonders auch der westfälische Ober-Präsident von Vincke, dessen erste Frau eine Kusine des Ministers von Bodelschwingh gewesen war. Klein und unscheinbar von Person, war dieser Mann vor und nach den Freiheitskriegen einer der größten Wohltäter seiner engeren und weiteren Heimat geworden. Er hatte einen klaren Blick für das Kleinste und für das Größte und entwickelte bei äußerster persönlicher Anspruchslosigkeit für die wichtigsten wie für die unscheinbarsten Dinge den gleichen Eifer. An den Akten pflegte er in echt preußischer Sparsamkeit jeden freien Streifen Papier abzuschneiden, um ihn zu seinen schriftlichen Notizen zu benutzen. Im blauen Kittel, um seinen darunter befindlichen guten Anzug zu schonen, visitierte er in Westfalen die Landräte und Amtleute, reiste auch in demselben blauen Kittel von Westfalen nach Berlin. Immer führte er eines oder mehrere dieser Kleidungsstücke bei sich, um sie seinen Freunden und Bekannten zu empfehlen oder zu schenken und ihnen bei der ersten Anprobe behilflich zu sein, die bisweilen nicht ohne Schwierigkeit vor sich zu gehen pflegte, da der Kittel ohne Knöpfe war und über den Kopf fix und fertig auf den Körper gezogen werden mußte. Er konnte keine Reise von Westfalen nach Berlin unternehmen, ohne sich mit allerlei Paketen zu beladen für die in Berlin studierenden Söhne seiner westfälischen Freunde und Bekannten.

Eine Reise, auf der Friedrich mit seinem Vater den alten aus Westfalen gekommenen Oberpräsidenten nach Eberswalde begleitete, blieb ihm unvergeßlich. Nachdem die Dienstgeschäfte erledigt waren, durcheilte der kleine über siebzigjährige Mann die Stadt, um die westfälischen Schüler der dortigen Forstakademie aufzusuchen und sich von ihnen Grüße und Aufträge für ihre Verwandten nach Münster zu holen. Als er 1844 starb und auf seinem Gute „Haus Busch” im westfälischen Lennetal begraben wurde, setzte man ihm auf seinen Grabstein nur die Worte: Vixit propter alios – er lebte für andere.

In demselben Sinne hatten auch Bodelschwinghs ihr Leben eingerichtet. Darum ging es im Hause einfach und sparsam zu. Wenn es freilich galt, bei festlichen Gelegenheiten den Staat zu vertreten, wurde nicht gespart. Der junge Friedrich hatte den Kandidaten, der seinen jüngeren Bruder unterrichtete, bisweilen auf seinen Gängen zu armen Leuten begleitet. Bei der Rückkehr nach Hause fiel ihm der Abstand zwischen den behaglichen und stattlichen Räumen seines Elternhauses und den Stuben der armen Leute schwer aufs Herz. Und einmal, als die Tafel für Gäste des Finanzministeriums festlich gedeckt und mit allerlei Prunkgeschirr und köstlichen Speisen besetzt war, fing der Knabe bitterlich an zu weinen im Gedanken daran, wie reichlich es hier zuging und wieviel statt dessen die armen Leute entbehren mußten. In beiden Fällen kostete es die Mutter Mühe, ihn über diesen Unterschied, unter dem er litt, zu beruhigen.

Bedeutsam für Friedrich v. Bodelschwingh und seine spätere Arbeit wurde es auch, als 1845 an einige Gymnasien und an die Kadettenanstalten die Aufforderung kam, zu Gespielen des Prinzen Friedrich Wilhelm, des Sohnes des Prinzen von Preußen, geeignete Altersgenossen vorzuschlagen. Unter den Vorgeschlagenen war auch der junge Bodelschwingh. Mit sieben oder acht Kameraden fand er sich von nun an wöchentlich einmal, namentlich Sonntags, bei dem jungen Prinzen ein, im Winter in Berlin, im Sommer in Babelsberg bei Potsdam.

Er erzählt darüber: „Wir waren zumeist zwischen 14 und 15 Jahren alt. Jedesmal, wenn ein neuer Gespiele hinzukam, begrüßte ihn der Prinz auf das zutraulichste und bot ihm gleich das Du an. Im Winter tummelten wir uns in dem geräumigen Turnsaal. Im Sommer, in Babelsberg, war unser Treiben meist noch viel freier und fröhlicher, weil wir nicht so unter den Augen des Generals von Unruh, des Gouverneurs des Prinzen, waren. Hier wurden nicht nur die gewöhnlichen Laufspiele gespielt, sondern wir durften uns wohl auch die Pferde aus dem Stall holen, große und kleine, und so, beritten, allerlei Spiele spielen, die sonst Knaben zu Fuß zu treiben pflegen. Am meisten Freude machte uns die kleine Flotte auf dem See, mit der wir unsere Seeschlachten lieferten. Ich erinnere mich noch, wie wir eines Tages den Prinzen Friedrich Karl angriffen, der eine kleine Fregatte kommandierte. Aber bei dem Versuch, mit meinem Freunde Zastrow zusammen die Fregatte zu entern, wurden wir von dem Prinzen durch verschiedene Eimer Wasser in die Flucht geschlagen.

Unser Prinz Friedrich Wilhelm war wohl der gesittetste unter uns Knaben, der in keiner Weise uns seine hohe Geburt fühlen ließ, sondern ganz wie mit seinesgleichen seine Spiele mit uns trieb und sich von uns Kleinen etwas gefallen ließ, da wir zumeist gelenkiger und hurtiger waren als er. Öfter kam auch Emanuel Geibel, um mit uns kleine Aufführungen einzuüben.”

Aber die tiefsten Erinnerungen und Einflüsse blieben doch auch in dieser Berliner Zeit dem Elternhause vorbehalten. Die Ministerin sah es bei dem mühevollen und unruhigen Leben ihres Mannes als ihre Hauptaufgabe an, Frau und Mutter des Hauses zu sein. Darum hatte sie sich schon bald nach ihrer Ankunft in Berlin, unter Hinweis auf ihren kränker werdenden Sohn Karl, beim König und der Königin die Erlaubnis ausgebeten, den Hoffestlichkeiten fern bleiben zu dürfen. Ihr Mann konnte sich diesen natürlich nicht entziehen. Aber ehe er ins Schloß fuhr, pflegte er vorher mit den Seinen die Abendandacht zu halten. Dann meldete er sich beim König und der Königin, ging nacheinander, bald den einen, bald den andern anredend, durch die Reihe der Festsäle, und manchmal, noch ehe die Kinder eingeschlafen waren, hörten sie den Wagen ihres Vaters wieder zurückkommen. Dann fand ihn der Rest des Abends wieder an seinem Schreibtisch; und früh um fünf Uhr war er aufs neue bei der Arbeit.

Nachmittags aber, nach dem einfach und eilig eingenommenen Mittagbrot und der kurzen daran sich anschließenden Ruhepause, fand sich die ganze Familie zum Kaffee zusammen, im Sommer im Garten, im Winter im geräumigen Saale. Dann gehörte der Vater ganz seinen Kindern, scherzte und tollte mit ihnen in größter Heiterkeit, als wenn niemals die ungeheure Last seines Amtes auf ihm gelegen hätte. Und wenn gelegentlich einmal sein Bruder Karl dazu kam, der ihm später im Finanzministerium folgte, dann mischte auch dieser sich in das fröhliche Spiel, und die Kinder sahen zu, wie die beiden schon ergrauten Brüder sich mit Kissen warfen. In der Erinnerung an solche Stunden sagte später der Sohn: „Ich glaube nicht, daß es einen so edlen, glücklich veranlagten Mann wie unseren Vater noch einmal gab.” Die Brüder unterhielten sich einmal über ihn. Der eine: „Solchen Menschen wie Vater gibt es nur einmal in Preußen!” Der zweite: „In Preußen? In Deutschland!” Der dritte: „In Deutschland? Nein, in Europa!” „Und”, fügte die Tochter hinzu, „dabei war er ein strenger Vater.”

Auch die Dienstboten nahmen an diesem Glück des Hauses teil. Durch den treuen Pastor Smend von Lengerich, der durch seine Briefe der seelsorgerliche Freund des Hauses geblieben war, wurde die Verbindung mit dem Tecklenburger Land wach erhalten, und mehr wie ein Tecklenburger Kind trat in Berlin in die Dienste des früheren Landrates und seiner Frau und wurde, auch wenn es sich verheiratet hatte, nicht vergessen, sondern als bleibendes Glied des Hauses angesehen.

Aber ohne seine Bürde war das Glück des Hauses nicht. Das ernste Leiden des dritten Sohnes Karl führte zu dauerndem Siechtum. Nie dachte die Mutter, obwohl sie selbst die Kaiserswerther Schwestern in die Charité eingeführt hatte, daran, sich eine Diakonisse zu Hilfe zu nehmen. „Die Schwestern gehören den Armen”, pflegte sie zu sagen. Die Kranken im eigenen Hause pflegte sie selbst. So hatte sie einen schwindsüchtigen Studenten aufgenommen und bis zum Tode gepflegt und blieb nun auch die Pflegerin ihres Sohnes, der in kindlichem Glauben sein Ende erwartete, bis seine Mutter ihm die Augen zudrücken konnte.

Auch ihr Bruder, der General von Diest, siechte dahin, und auch bei ihm, der seit langem Witwer war, hielt sie in treuster Pflege bis zuletzt aus. An dem Tage, an dem er starb, schrieb sie in ihr Tagebuch: „Todestag? – Gott sei Dank, daß ich mit Gewißheit sagen darf, nicht Todestag, sondern seliger Heimgang meines treuen, noch einzigen Bruders Heinrich. Sein großes schweres Leiden machte ihn keinen Augenblick zweifelnd an der Liebe seines Gottes. Des Herrn Kraft ist in dem Schwachen mächtig, und wie er ihn bekannt hat vor den Menschen als seinen Helfer, Erlöser und Seligmacher, so wird der Herr auch ihn jetzt bekennen vor seinem himmlischen Vater und sagen: ‚Gehe ein zu deines Herrn Freude!’ Seine Lagerstatt war mir ein stilles Heiligtum, und sein letzter Atemzug war für ihn der Anbruch eines Tages, wo er zum Anschauen dessen gelangt, was er hier geglaubt. Ich mußte ihn mit den Worten begleiten: ‚Der Erlöste des Herrn ist nach Zion kommen mit Jauchzen, seine Zunge wird voll Rühmens und sein Mund voll Lachens sein!’”

Ernster noch, aber doch von ähnlicher heiliger Freude begleitet, war der Weg zum Grabe ihres ältesten Sohnes. Er war einst als kleines Kind in Tecklenburg schwer krank gewesen. Da hatte ihn die Mutter in leidenschaftlichem Gebet Gott abgetrotzt: Er sollte ihr das Kind am Leben erhalten. Das Kind genas wirklich. Es war ein geweckter, für alle Eindrücke sehr empfänglicher Knabe geworden. Nun in Berlin schlug die Verführung der großen Stadt ihre Krallen in den hochbegabten, von Kraft und Schönheit strotzenden Studenten der Rechtswissenschaft. „Mit seinem Glauben verlor er die Kraft zu Kampf und Sieg,” schrieb später sein Bruder Friedrich. Die Mutter sah ihn bergab gleiten. Aber er ließ sich nicht halten. Bittere Selbstanklagen stiegen in ihr auf in Erinnerung an jene Krankheit und jenes Gebet in Haus Mark. Dazu kam die Sorge um ihren heißgeliebten Mann, an dessen Herzen der Kummer nagte. Jede Nacht blieb sie auf und wartete, bis ihr Sohn zurück war. Wenn sie endlich seinen Schritt hörte, kam kein Wort des Scheltens über ihre Lippen, nicht einmal einen Gedanken des Vorwurfs duldete sie in ihrem Herzen. Sie litt still um ihn und für ihn und klagte sich selbst an.

Eines Nachmittags trat er ganz ruhig ins Zimmer. Seine Hand war verbunden. In einem studentischen Lokal war er mit einem politischen Gegner seines Vaters aneinander geraten. Es war zu einer Forderung und zum Duell gekommen. Er wußte, daß sein Gegner, der ein sehr guter Schütze war, ihn töten wollte. Er selbst hatte in die Luft geschossen und hatte dann seine Hand mit der abgeschossenen Pistole vor die Brust gelegt. So war ihm die Kugel des Gegners, der auf die Brust gezielt hatte, in das Handgelenk gefahren.

Die Wunde schien ungefährlich. Aber als Friedrich, der in der dritten Nacht bei seinem Bruder gewacht hatte, um die Wunde, wie es damals Sitte war, mit Eis zu kühlen, dem Kranken mit anbrechendem Morgen ins Gesicht sah, erschreckten ihn dessen veränderte Züge. Eine Blutvergiftung hatte sich angebahnt, die schnell zum Tode führte. „Doch konnte er noch”, so schreibt Friedrich, „der Mutter sein ganzes Herz in allen Stücken aufschließen und dem Vater auch.” Am Morgen vor seinem Tode feierten Vater und Mutter und die beiden ältesten Geschwister, Frieda und Franz, mit dem Sterbenden zusammen das heilige Abendmahl. „Der liebe Pastor Snethlage” (Hofprediger des Königs) – schreibt Friedrich – „konnte in solchen Stunden mit seinem heiligen, stillen Ernst und seiner großen Einfachheit so nahe ans Herz dringen. Ich erinnere mich, daß es mir vorkam, als wäre der Himmel ganz nahe auf der Erde, wie ich es vorher nie gespürt. Am Nachmittag ging ich wieder in die Schule, da wir das Ende nicht für so nah hielten. Aber kurz vor vier Uhr, ehe die Schule schloß, hatte ich einen ganz besonderen Eindruck, den ich nicht beschreiben konnte. Es war mir so, als wenn die Stunde des lieben Bruders nun doch schon geschlagen hätte. Ich eilte nach Hause und in das Sterbezimmer hinein. Da saß die Mutter dicht an dem Bett, dem Bruder gegenüber. Sie hatte ihm eben die Augen zugedrückt, nachdem sie ihm in seinem letzten Augenblick zugerufen hatte: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöset, ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein!”

In dem Briefe, den Ludwig am Morgen des Duells an seinen Vater geschrieben hatte, hieß es: „In wenigen Stunden werde ich nun doch meinem Dir bekannten Gegner mit der tödlichen Waffe in der Hand gegenüberstehen, und nach dem, was vorausgegangen ist, ist nicht daran zu denken, daß die Sache ohne Unglück ablaufen könne. Ich erkenne es daher als meine heilige Pflicht, mich darauf vorzubereiten, daß ich vielleicht heute noch vor meinem Richter erscheinen und von meinem Leben Rechenschaft geben muß. Aber ich fühle auch, wie wenig ich darauf vorbereitet bin. Die Schuld meines ganzen Lebens lastet schwer auf mir, und ich kann mich nur zweifelnd und mit Zittern fragen, ob ich Gnade und Vergebung hoffen darf. Ich habe mich streng geprüft, welche Gefühle ich meinem Gegner gegenüber hege, und kann aufrichtig versichern, daß ich keinen Groll gegen ihn empfinde. Das Duell wird daher in keiner Weise ein Akt der Rache für mich sein. Ich schlage mich, weil ich mich nicht stark genug fühle, den herrschenden Standesansichten entgegenzutreten, weil ich einsehe, daß ich sonst eine ehrenhafte Stellung in der Welt nicht behaupten kann.

Es kann und muß mich sehr beruhigen, daß ich an dem Duell ganz schuldlos bin. Mein Gegner zwingt mich dazu, und es ist von meiner Seite durch meinen Sekundanten alles geschehen, was eine friedliche Beilegung herbeiführen könnte.

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