
Полная версия
Die Hallig
Staunend über die rätselhafte Veränderung ihrer Lage, blickten die seeerfahrenen Matrosen und der alte Mander, während seine Kinder sich erst allmälig aus ihrer starren Angst erhoben, in die Nacht hinaus; aber Alles um sie her war so schwarz verhüllt, daß sie kaum sich einander, viel weniger irgend Etwas außerhalb des Bootes erkennen konnten, und fragend wandten sich Alle an Godber. Er allein, der sie so wunderbar geführt, mußte Auskunft geben können. „Wir sind zur Stelle!“ rief dieser, sprang auf Idalia zu, löste das Seil, mit dem sie noch immer umgürtet war, von ihren Schultern, schlang das eine Ende um seinen Leib, band das andere Ende in einem Ring der Jolle fest, lehnte seine Stange schräge aus von dem Boot und sprang mit einem mächtigen Satz in die Finsternis und in die Wogen hinein. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr Allen. Dann standen sie einige Minuten lang in stummer Erwartung, wie dies ihnen ganz zwecklos dünkende Wagestück Godber’s enden werde. Schon gaben sie ihn verloren, und damit sank wieder jede Hoffnung, aus dem Schrecken dieser Nacht gerettet zu werden. Plötzlich schallte ein lautes Halloh! Halloh! wie aus den Wolken her über sie hin. Die Matrosen antworteten unwillkürlich dem ihnen gewohnten Ruf, obwohl sie nicht begreifen konnten, woher die Stimme so nahe, und doch wieder so hoch von oben her, als ob ein Riese neben ihnen stände. Vergebens strengten sie ihre Blicke an; ihr sonst so scharfes Auge für alle Gegenstände auf dem Meere sah Nichts, als die undurchdringlichste Nacht. Wieder gingen einige Minuten der gespanntesten Erwartung vorüber. Siehe, da glänzte plötzlich ein freundliches Licht durch die Fenster einer friedlichen Wohnung dicht über ihnen auf sie herab, und nach dem ersten regungslosen Erstaunen begrüßten die Matrosen dessen Erscheinen mit einem jubelnden Hurrah! während die Andern mit Thränen der Freude einander in die Arme sanken. Die ganze Lage der Dinge war jetzt klar. Der Nachen ankerte neben einer bis zur halben Höhe von den Fluten bedeckten Werfte und ward durch dieselbe und die darauf stehende Wohnung vor dem Winde geschützt, während noch rings umher der Sturm in gleicher Stärke auf den Wellen tobte und scheinbar noch wilder brauste, indem die an der Werfte vorbei brandenden Wogen eine kleine Strecke hinter dem Boote gegen einander aufwirbelten. Das eine Ende des Seils, das Godber mit hinaufgenommen, hatte er schon an den Thürpfosten befestigt, zog daran das Fahrzeug so nahe wie möglich zu sich und bildete damit zugleich eine ausreichende Handhabe für die Aufsteigenden, so daß in wenigen Augenblicken sich alle in dem sichern Schutz des Hauses befanden.
Hier mit der gutmütigsten Gastfreiheit aufgenommen und mit dem geschäftigsten Eifer erquickt, gewannen sie Zeit, ihrem frohen Erretter den freudigsten Dank darzubringen, den die Matrosen mit einem warmen, festen Händedruck und einem: „Du bist ein braver Steuermann!“ kurz und bündig abmachten. Der alte Mander sagte ebenfalls nur wenige Worte und saß dann stumm und sinnend da. Oswald konnte nicht Redensarten genug finden, um seine Dankbarkeit auszusprechen, dabei war er lustig wie ein Kind, lachte und scherzte über die geliehenen Kleider, in die sie angethan waren, und die freilich nicht eben im Modeschnitt anpaßten, aber doch eine behagliche Wärme den Durchnäßten bereiteten. Idalia, die sich im Nebenzimmer umgekleidet, trat jetzt herein, und während Oswald sie jubelnd umfaßte und sich totlachen wollte über ihren Anzug, in welchem, wie er meinte, sie notwendig auf dem nächsten Maskenball in Hamburg Furore machen müsse, starrte Godber sie als eine Erscheinung an, die mit dem seligsten Entzücken alle seine Nerven durchbebte. Sie war eine Jungfrau seiner Heimat. Dies glattgescheitelte Haar, von der kleinen Haube nur ein wenig bedeckt, dieses grüne Mieder mit seinen kurzen Aermeln, dieses nachlässig in einen Knoten geschlungene Tuch von bunter Seide, dieser gestreifte Rock, der nicht so lang war, die blauen Strümpfe zu verbergen, dieser Anzug hatte die prunksüchtige Großstädterin zu einer bescheidenen Erbin seines Stammes umgeschaffen. Aber diese hohe, weiße Stirn, diese glänzend braunen sprechenden Augen, diese feinen Gesichtszüge und die zartgeröteten Lippen und Wangen, diese lieblich gerundeten Arme mit der kleinen zierlichen Hand: nein! sie war das himmlische Bild einer irdischen Tochter der Hallig. Er war noch verloren in ihrem Anblick, als Idalia sich endlich frei machte von den Spässen ihres Bruders und nun, von ihrem lebendigen Gefühl hingerissen, Alles um sich her vergessend, auf Godber zueilte, mit dem leidenschaftlichsten Ungestüm sich an seine Brust warf und ihn mit ihren Thränen und ihren Küssen bedeckte. Er war ihr ja nachgesprungen in die grausige Tiefe; er hatte durch seine kluge und kühne Führung sie und ihren Vater und Bruder gerettet! Wie konnte sie daran denken, daß die ungehemmte Aufwallung ihrer Dankbarkeit die Grenzen überschritt? Wie konnte sie, die nie gewohnt war, ihre Lebhaftigkeit nur aus Rücksichten auf Andere in das Geleis des Gewöhnlichen zu zwingen, in diesem Augenblick zurückhaltender sein, als das Gefühl ihres Herzens sprach? Einen Geist, wie der ihre war, der jeden Funken der Empfindung sogleich zur hellen Flamme anfachte, hatten die Stunden der Schrecknis auf die furchtbarste Höhe der Angst gesteigert, und so mußte ihn auch die Freude der Errettung Alles überwältigend fortreißen. In den süßesten Tönen, die kaum zu Worten wurden, und die sich in immer von Neuem wieder hervorbrechende Thränenströme auflösten, dankte sie Godber für ihr Leben; und so oft ein Gedanke ihr den Tod in den tobenden Fluthen wieder vormalte, dem sie entgangen, schauderte sie vor dem Schreckensbilde zusammen und klammerte sich fester um den Hals des Retters, als sollte er sie noch einmal aus der grauenvollen Tiefe ziehen. Und Godber – da stand der männlich schöne Jüngling mit bebendem Entzücken, wie Einer, dem plötzlich die Pforte eines neuen, nie geahnten, seligen Daseins aufgethan ist. Ach! der Hoffnungsstern der armen Maria war untergegangen in der Stunde, in welcher endlich ihr langersehnter Verlobter den heimischen Boden betrat.
IV
Bringst Du zur Heimat wiederDie alte Lieb’ und Treu’,Dann laß Dich fröhlich nieder,Es grüßt Dich Alles wiederMit alter Lieb’ und Treu’.Am andern Morgen war der Himmel klar und heiter. Hinter dem Deiche des festen Landes tauchte eben die Morgensonne empor und warf neugierig ihr Strahlenauge über die Halligen hin, um nach den Verwüstungen der vergangenen Nacht zu sehen und zu fragen, ob noch Wesen übrig geblieben, die ihres Lichtes sich freuten. Das Meer floß still und friedlich in seiner gewohnten Bahn und schien den Menschen, in deren Ohr noch das Wogengebrause der letzten Stunden nachklang, lächelnd zu sagen: Ihr habt nur geträumt!
Godber, welcher trotz der Anstrengung, zu der ihn die im vorigen Kapitel beschriebenen Gefahren genötigt hatten, wenig Ruhe fand, trat vor die Thüre der freundlichen Wohnung. Die verschiedenartigsten Gefühle bestürmten sein Herz. Da lag vor ihm der Boden seiner Hallig, nach dem er an den blühenden Küsten Italiens, auf den reichen Fluren Hollands mit solchem Heimweh sich gesehnt; der Boden, auf dem er allein sich glücklich fühlen konnte, von dem sich jetzt wieder loszureißen ihm eine Unmöglichkeit gewesen wäre. Für diese Heimat hatte er in der Fremde gestrebt und gedarbt; der Gedanke an sie hatte ihn gespornt zur unermüdlichsten Thätigkeit, zum willigsten Gehorsam, zum ängstlichsten Eifer in Erfüllung aller seiner Pflichten; hatte ihn ferngehalten von allen Vergnügungen seines Standes, ihn rastlos gemahnt zum sparsamsten Haushalt. Jeder neue Beitrag zu seinem kleinen baaren Schatz, den er stets bei sich getragen und daher auch jetzt gerettet, war immer der Anfang eines lieben frohen Traumes von der Wiederkehr gewesen, dem er sich an solchen Tagen oft Stunden lang in der Einsamkeit hingegeben. Nur seine Begierde, sich zu unterrichten, sein Streben nach einer Bildung über seinen Stand hinaus, konnte ihn verführen, seinen Schatz zuweilen für diesen Zweck anzugreifen; aber er darbte dann auch nur desto sorglicher, um solche Ausgaben bald wieder zu ersetzen. Nun hatte er es erreicht. Dort stand seine väterliche Wohnung. Schauer des Entzückens rieselten durch sein Gebein; Thränen der Freude brannten auf seinen Wangen. Wer, selbst nicht Halligbewohner, diesen nackten Fleck, auf dem das spärliche Gras von der letzten Ueberschwemmung her noch in schlammigter Glätte niederlag, mit seinen tief ausgefurchten und zerlöcherten Werften angesehen und dazu noch der vergangenen Nacht gedacht hätte, die alle Lebendigen auf dieser Scholle im Meere dem Wellentode so nahe gebracht, der würde nie geahnet haben, daß diese Heimat des Jünglings Freudenthränen hervorgerufen. Aber Godber hatte um dieses Anblicks willen neun Jahre hindurch ein Leben voll Anstrengungen und Gefahren, voll Entbehrungen und Entsagungen ertragen; und hätte er zwanzig Jahre so geduldet und gelitten, ihn würde die Wiederkehr auf diese Flur damit nicht zu theuer erkauft dünken.
Und doch, ganz rein war seine Freude nicht. Er konnte sein Kniee nicht beugen vor dem Gott, der ihn gnädiglich behütet und heimgeführt zu dem Lande seiner Väter. Hätte er es doch gethan! Vielleicht würde er dann ganz sein altes Herz wiedergefunden haben. Es wären die eitlen Träume von ihm gewichen. Das Gelübde der Treue wäre der frommen Maria bewahrt und Idalia’s verführerisches Bild hätte seinen Zauber verloren.
In jedes Menschen Leben tauchen wohl solche Zauberbilder auf, die ihm die innere Klarheit trüben und den hellen Blick rauben für die nächste Pflicht; die, wenn sie nicht bloße Träume der Phantasie sind, sondern vielmehr durch außerordentliche Lagen und Verhältnisse hervorgerufen wurden, ihm als Bestimmungen seines Geschicks erscheinen. Sie gaukeln um seine Seele wie ladende Boten eines Genusses, von dem ihn nur kleinliche Rücksichten und Mangel an Selbstvertrauen bisher zurückhielten, und der ihm gewiß ist, wenn er es nur wagen will, sich in seiner Kraft zu erheben. Sie malen ihm eine Zukunft vor, gegen die Alles, was ihm ruhiges Beharren in dem gewöhnlichen Gleise, treues Festhalten früherer Grundsätze, williger Gehorsam unter dem seither dafür gehaltenen Gesetz Gottes zu bieten vermag, matt und farblos, ja seiner unwürdig vorkommt. Es ist ihm zu Mute wie Einem, der nur den Fuß vorwärts zu setzen braucht, um einer langen Knechtschaft zu entfliehen, um in ein Paradies einzutreten, dessen Pforte er nur zu lange schon sich selbst eigensinnig verschloß. Er fragt sich, warum er nicht die schwachen Riegel, Pflicht und Gewissen, ganz zurückschieben solle? Ja, es will ihn bedünken, als seien die Riegel nur ein Ammentraum, dem er entwachsen, oder als habe er jetzt erst in Wahrheit erkannt, was Pflicht und Gewissen eigentlich von ihm fordern. In solchen Zeiten hat der Mensch in sich selber Nichts, was ihm einen Halt geben oder zum Wegweiser dienen könnte. Er hat gleichsam den gewohnten Boden unter seinen Füßen verloren, auf dem er sonst mit Sicherheit auftrat; ihm ist das Ziel seines ganzen früheren Lebens verrückt und seine Gedanken und Empfindungen sind doch noch nicht heimisch geworden in der neuen Aussicht. Darum hat er keine andere Hülfe, als die von Oben kommt. Er richte sein Sinnen und Denken hinauf zu der festen Burg des klaren Rechtes; er hafte mit Blick und Herz an dem ewigen Worte des Richters der Lebendigen und der Toten; er lasse die Welt mit ihren Träumen einen Augenblick hinter sich und versenke mit voller Hingebung sich in das Anschauen Dessen, der die fromme Brust durch Seinen heiligen Geist zu einer Stätte der Gemeinschaft erwählet des Himmels und der Erden. Und dieser Geist wird ihm die Erleuchtung bringen, deren er bedarf. Die Nebelgestalten werden von ihm gewichen sein, wenn er wieder zurückschaut auf seinen Pfad. Er wird sie erkennen als Schatten einer im Hintergrunde lauernden Sünde und nun klar seinen Weg wissen und ihn mit Zuversicht wandeln.
Aber Godber betete nicht, und sein Auge und seine Seele verfinsterten sich, als sein Blick flüchtig auf Maria’s Wohnung hinstreifte. Es ergriff ihn ein Gefühl wie Gewissensangst; aber er scheute sich vor einer klaren Rechenschaft vor sich selbst und ward froh, als die Erinnerung an das im Sturm verlassene Wrack und die darauf gebliebenen Leute alle andern Gedanken verdrängte. Rasch wandte er seine forschenden Blicke nach dem westlichen Ende der Hallig und – da lag das Schiff gekentert nicht weit vom Strande. Er eilte geflügelten Schrittes darauf zu. Sein Weg aber führte ihn an Maria’s Wohnung vorüber, und es wurde ihm unheimlich um’s Herz, als er in die Nähe derselben kam; sein Blut flog rascher in den Adern und färbte seine Wangen röter. Er trat unwillkürlich leiser auf, als fürchtete er, die Verlobte mit dem Geräusch seiner Tritte aus einem Hoffnungstraume zu wecken und in die zu seiner Freude noch geschlossene Thür zu rufen. Wie er vorbei war, fiel ein Stein von seiner Brust, ohne daß er bedachte, wie wenig mit einer solchen kurzen Frist gewonnen sei. Jetzt fesselte wieder das Wrack seine ganze Aufmerksamkeit, und bald hatte er das Ufer erreicht. Doch vergebens strengte er seine Augen an, er sah keine menschliche Gestalt. Er watete so weit als möglich auf den Schlick hinaus, ließ sein schallendes „Halloh“ ertönen; Niemand antwortete. Stumm und unbeweglich lag der jetzt so formlose Bau vor ihm, den früher, als er noch in seiner Schöne mit entfalteten Schwingen die Wogen rauschend durchschnitt, laute und fröhliche Thätigkeit belebte. Godber mußte sich, nach wiederholten Versuchen, einen Gegenlaut hervorzurufen, von dem unglücklichen Schicksal seiner früheren Gefährten überzeugen. Es drängte sich ihm die Vorstellung auf, ob es ihm nicht besser gewesen wäre, in den Wellen, gleichwie sie, begraben worden zu sein, als mit dem Bewußtsein einer doppelten Untreue zu leben: gegen ein Schiff, dessen Steuer ihm anvertraut gewesen war, und das er, wie jeder Seemann das seine, gleich einer Braut geliebt hatte, und gegen die Verlobte seiner frühesten Jugend. Lange starrte er mit trübem Sinnen vor sich hin, bis beim Rückblick auf die Begebenheiten der vergangenen Nacht Idalia’s Bild vor ihn hintrat und alle seine Gedanken und Empfindungen allein auf sich zog. Es ergriff ihn eine unbeschreibliche Sehnsucht, sie wieder zu sehen. Er klagte sich an, ihren Morgengruß nicht erst erwartet zu haben und lenkte seine Schritte eilig zurück.
Achtlos wäre er an der Wohnung seiner Verlobten vorübergegangen, aber – da öffnete sich die Thür; Maria trat mit ihrem Wassereimer heraus. Ihr erster Blick fiel auf Godber. Rasch warf sie ihren Eimer hin, sprang die Werfte hinab, flog jubelnd auf ihn zu und mit einem freudigen „Godber, Godber, bist du da!“ ergriff sie seine Hand, die er ihr mechanisch entgegenstreckte. Hätte er sie an seine Brust gezogen, sie würde seinen Kuß ohne Ziererei empfangen und wiedergegeben haben. Daß er es nicht that, verstimmte sie aber keineswegs; denn an eine ruhigere Aeußerung der Liebe, als die größere Leidenschaftlichkeit der Bewohner des festen Landes in solchen Verhältnissen sie zuläßt, war die Tochter der Hallig gewöhnt. Wußte sie doch, daß er ihr treu geblieben sei; und wenn er es auch nicht geschrieben hätte, er war ja ein Sohn ihrer Heimat, auf der Untreue unter den in früher Kindheit schon Verlobten eben so unerhört ist, als unter Gatten.
„Wo kommst Du aber heute her? Wir erwarteten dich erst morgen von Husum; denn, nicht wahr? Du warst auf dem Schiff, das wir gestern in der Ferne ankern sahen? – Wo ist denn das Schiff geblieben?“ Mit diesen Worten sah sie nach der Ankerstelle, nach der sie gestern mit so sehnsüchtiger Hoffnung hingeblickt hatte.
„Da!“ sagte Godber und streckte seine Hand seitwärts aus nach dem Wrack.
„Herr Gott!“ schrie Maria auf und wäre nun fast an die Brust des Geliebten gesunken. „So kämpftest Du mit dem Tode, während ich so ruhig von Dir träumte! Wir hörten wenig vom Winde in der Vorderstube und meinten, der Sturm habe längst ausgetobt. Ich sagte es der Mutter wohl, daß wir ein Licht in die Hinterkammer setzen sollten; ich hätte gern dabei gewacht. Sie aber meinte, es könnte die in dieser Gegend fremden Schiffer irre machen und lachte mich aus, weil ich so gewiß wissen wollte, daß Du auf dem Schiffe seist. Und nun seid Ihr doch gestrandet! Ach! was hast Du wohl ausgestanden! und wie hätte ich geweint, wenn Du umgekommen wärest. Gewiß, ich wäre auch gestorben!“ und dabei deckte sie die Augen mit ihrer Schürze und weinte vor Angst und vor Freude.
Godber zitterte wie ein Verbrecher. Die Thränen des Mädchens fielen wie glühende Tropfen auf seine Seele. Einen Augenblick kehrte sein früheres volles Gefühl für sie wieder zurück. Er umfing sie mit seinen Armen, preßte sie heftig an sich, und als sie mit ihren blauen, feuchten Augen so voll Liebe zu ihm aufblickte, war Idalia’s Bild ganz aus seinem Herzen verschwunden. Aber Maria riß sich schnell von ihm los und rief:
„Armer Godber! wie zitterst Du! Komm doch geschwind in’s Haus. Der Thee soll gleich fertig sein. Wie die Mutter sich freuen wird, wenn Du vor ihr Bett trittst! Bist Du allein gerettet?“
Diese Frage führte Godber’s Gedanken schnell wieder zu Idalia hin. Er fiel wieder in seinen frühern Kaltsinn gegen Maria zurück und sprach hastig und in abgebrochenen Sätzen:
„Es sind noch Andere gerettet. – Leb’ wohl! – für jetzt! – Ich muß Bescheid bringen wegen des Schiffes.“
„Warte doch!“ entgegnete Maria. „Wo sind sie? Ich gehe mit Dir. Laß’ mich nur erst der Mutter Nachricht bringen.“
Damit sprang sie fröhlich die Werfte hinauf und kam in wenigen Augenblicken wieder zu Godber, der regungslos und in dumpfer Verzweiflung auf dem Flecke geblieben war.
Sie gingen nun mit einander. Er mit trüben Sinnen und einsilbigen Lippen; sie mit leuchtenden Augen und mit einer muntern, ihr sonst ganz ungewöhnlichen Geschwätzigkeit. Sie hatte ihm ja so Viel zu erzählen, wie sehr sie sich nach ihm gesehnt, wie sie bei allen Arbeiten seiner gedacht, wie fleißig sie gesponnen für die Aussteuer, und sie rechnete ihm dabei jedes einzelne Stück des künftigen Haushalts vor, das sie teils von der lieben Mutter mitbekomme, teils selbst verfertigt habe. Godber war zu Mute, als ob ein ängstlicher Traum ihn immer fester umwob und sein Herz einschnürte; sie aber erzählte weiter, wie sie so oft den lieben Gott gebeten, ihn glücklich heimzuführen; mit welcher Zuversicht sie auf die Erhörung ihres Gebetes vertraut; mit welcher Inbrunst sie nun dem Vater im Himmel danken wolle für Seine Güte und Barmherzigkeit, der aber nicht böse werden müsse, wenn sie jetzt vor lauter Fröhlichkeit noch nicht zu einem rechten vollen Dankgebet kommen könne. Wenn sie so mit kindlich frommer Herzlichkeit bald mit Gott sprach, bald mit Godber von dem ersten gemeinsamen Kirchgang, dann fiel es ihm wie Felsenlasten auf die Brust und wie Bleigewicht in seine Füße; er mußte still stehen und Atem schöpfen und seine Kniee drohten einzusinken. Maria bemerkte es; aber die wahre Ursache nicht ahnend, faßte sie ihn mit der zärtlichsten Besorgnis am Arm und schalt, daß er die Erquickung in ihrem Hause verschmäht. Er sei ja noch so angegriffen und es sei unverantwortlich, daß er sich nicht erst gehörig ausgeruht; aber:
„Warte nur,“ fügte sie hinzu, „nun sollst Du auch in den ersten vierzehn Tagen nicht vom bequemen Lehnstuhl aufstehen. Ich will Dich pflegen wie ein Schoßkind. In des seligen Vaters Schafpelz mit seiner wollenen Nachtmütze über den Ohren sollst Du wohl wieder warm werden.“
„Nein, es ist abscheulich, wie Du Deine Gesundheit durch Deine trotzige Weigerung, bei uns einzukehren, auf’s Spiel gesetzt hast!“ sagte sie im Ernst zürnend und halb weinend, als sie zu dem schmalen Balken kamen, der, über den dort noch 16 Fuß breiten Seearm gelegt, freilich nur einem auf solchem Schwindelpfad geübten Halligbewohner ein Steg heißen konnte, da er, um die Schafe zu hindern, nur die scharfe Kante dem Fuße darbot. Maria war wie im Tanze hinübergehüpft; Godber folgte ihr nur langsam und schwankend nach.
Als sie in das Haus eintraten, fanden sie Alle um den großen Tisch beim Frühstück, dessen ganzer Aufsatz freilich nur in Thee mit Schwarzbrot, Butter und Schafskäse bestand. Idalia trug noch die Kleidung der Hallig; doch hatte sie mit erfinderischem Sinn und geschmackvoller Auswahl dem Anzug, ohne Nachteil seiner Eigentümlichkeit, manchen ihm früher fehlenden gewinnenden Reiz gegeben. Ihr Haar, obwohl von der Stirn weggescheitelt, war doch nur in so weit unter die kleine Haube aufgebunden, daß noch mehrere Locken über die Schultern hinfielen. Sie hatte auch aus dem Schmuckkästchen der Familie, dessen reiche Fülle ihre Erwartungen bei weitem übertraf, die lange goldene Kette geborgt, die jetzt von ihrer Brust glänzte, als oben weit und nach unten zu immer kürzer geschnürtes Band das Mieder zusammenhaltend, nach der Weise, wie beim Brautputz solche Ketten auf den Halligen getragen werden. Die großen, ebenfalls goldenen Medaillons, die sonst wohl noch darüber hängen, hatte sie mit besserm Geschmack unbenutzt gelassen. Bei Godber’s Eintritt stand sie rasch auf und trat mit dem unwiderstehlichsten Liebreiz in allen ihren Zügen ihm entgegen, nicht mehr mit der Alles vergessenden Leidenschaftlichkeit von gestern, sondern mit einem Lächeln, in welchem das Bewußtsein sich auszudrücken schien, daß sie ihm gefallen müsse. Man würde aber Idalia Unrecht thun, wenn man ihr Benehmen gegen Godber als leere Gefallsucht auslegen wollte. Nein, ungewohnt, die Verhältnisse zu beachten, oder die Folgen zu bedenken, wo ihre Neigung sprach, gab sie sich auch jetzt ihrem Gefühle ganz hin; und dies Gefühl war mehr als Dankbarkeit gegen den Retter ihres Lebens, es war, wenn nicht volle, zu jeder Aufopferung fähige Liebe, doch eine Aufwallung von Liebe mit allen Ansprüchen, welche die wahre Liebe auf den geliebten Gegenstand macht. Sie wollte gefallen, um sich des Jünglings Herz zu gewinnen, für den so Viel in ihrem Herzen sprach; und fern war sie dem Gedanken, ihn nur als Sklaven ihrer Laune an den Triumphwagen ihrer Reize zu fesseln, obwohl ihr ganzes Benehmen von einer Absichtlichkeit geleitet wurde, zu welcher sonst nur eine Kokette und nie eine wahrhaft Liebende fähig ist. Godber hing mit stummem Entzücken an dem Anblick der lieblichen Erscheinung. Festgebannt auf der Stelle, wo er stand, sah er sie mit einem Blicke auf sich zuschweben, der alle Tiefen seiner Seele durchdrang. Wie sie nun seine Hand faßte, sie an ihre Brust drückte und mit schmelzenden Tönen und dem traulichen Du fragte: „Godber, mein Retter, wie konntest Du uns so früh verlassen ohne meinen Dank für den Morgen zu erwarten, den ich ohne Dich nie gesehen?“ Da wäre er fast ihr zu Füßen gesunken, und Idalia feierte den vollständigsten Sieg, der ihr, wie das zufriedene Lächeln um ihre Lippen verkündete, auch nicht unbemerkt blieb. An ihrer Seite mußte er sich niedersetzen, während Maria, scheu und verlegen und plötzlich verstummt in der Nähe der Fremden, ihr gegenüber kaum sich zu setzen wagte und nur halbe Blicke zu Idalia aufrichtete, deren zarte Schönheit und deren ihr wohl bekannte und doch wieder fremdartige Tracht ihre ganze Aufmerksamkeit auf sich zog. Sie konnte sich eines unheimlichen Gefühls nicht erwehren, das mehr war, als bloße Befremdung über die ungewöhnliche Erscheinung und über das zutrauliche Benehmen der Fremden gegen Godber. Sie mußte unwillkürlich die bei weicher Fülle schlanken Formen und die blendenden Reize Idalia’s mit dem eignen, von der Sonne gebräunten Antlitz, den von anstrengender Arbeit zeugenden Armen und Händen und der gedrungenen, nur Rührigkeit und Gewandtheit versprechenden, aber keineswegs in stolzer Hoheit imponirenden Gestalt vergleichen. Sie, unter den Halligmädchen leicht die Schönste, stellte sich in ihrer Bescheidenheit tief unter die Fremde, tiefer wohl noch, als sie wirklich zu stehen verdiente. Was Godber’s kalte Erwiderung auf die Aeußerungen ihrer Freude beim Wiedersehen nicht zu wecken vermocht hatte, das drängte beim Anblick der Fremden sich ihr auf: Zweifel an des Verlobten Treue. Und nicht Idalia’s Benehmen gegen Godber war es allein, das solchen Stachel in ihr Herz drückte, sondern die Eifersucht der Liebe, die auch dem einfachsten Mädchen einen nicht leicht zu täuschenden Scharfblick leiht, wenn sie mit dem Geliebten in der Nähe eines andern weiblichen Wesens weilt, würde ihr, auch ohne die Zutraulichkeit der Fremden gegen den Jüngling, manche ihr unwillkommene Bemerkung aufgedrungen haben. Maria’s Herz sollte bald ganz gebrochen werden.
„Wer ist das liebe Mädchen?“ fragte Idalia mit dem freundlichsten Tone, der aber mit einem scharfen, forschenden Blicke auf Godber begleitet war, als wüßte sie schon, wie viel ihr an der Antwort gelegen sei.
Maria errötete tief, sah aber doch dabei mit einem gewissen Trotz zu der Fremden auf. Godber erglühte noch tiefer; sein Auge senkte sich zu Boden, und seine Stimme zitterte, als er erst nach einer Pause antwortete: Maria Nommens. – Er schien noch etwas hinzusetzen zu wollen, aber – er schwieg. Maria horchte noch eine tötliche Minute lang, aber – er schwieg. Da sank sie bleich in sich zusammen, preßte die Hand auf’s Herz, in welchem alle Pulse stockten, und sah und hörte nun nichts weiter. Daß er nicht hatte hinzusetzen können oder wollen: meine Braut! das war für sie genug zur Entscheidung ihres Geschicks. Mit diesem seinem Schweigen war das Glück ihres Lebens vernichtet. Sie wußte nun, daß sie ihn verloren. Idalia ahnete wohl etwas von den Verhältnissen. Ihr konnte die Bewegung Beider nicht entgehen; aber die Freude, Godber für sich gewonnen zu haben, überwog fast ganz ihr Mitleid mit der armen Maria. Auch Godber fühlte, wie er durch das Verschweigen seines Verhältnisses zu Maria schon Alles gesagt habe, und dachte gar nicht daran, wie ja möglicherweise sie gar keine Bedeutung auf dies Verstummen gelegt habe. Er wagte es nicht, aufzusehen und saß in der peinlichsten Unruhe da, woraus er erst durch die Frage Mander’s: „ob er nichts von dem Schiffe gesehen?“ zu seiner Freude gerissen wurde. Er erzählte nun, indem er aufsprang, mit einer Hast und mit einer Teilnahme, die mit seinem bisherigen Stillschweigen über diesen Gegenstand gar nicht zu vereinigen war, was er gesehen und wie die Zurückgebliebenen wohl ihren Tod in den Wellen gefunden hätten.