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Moderne Geister
Moderne Geister

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Moderne Geister

Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Die Formen der Berge und Thäler, der Lauf der Flüsse, das Bett der Seen, sie bleiben durch Jahrtausende dieselben. Im Morgenlande haben überdies die Formen der Zelte und Häuser, der Schnitt der Trachten, die Art der Beschäftigungen, die durch das Klima bestimmte Lebensweise sich Jahrtausende lang unverändert erhalten, so dass Renan wie zur Weihe eine lebendige Vorstellung davon einsog, wie die Naturverhältnisse und die Umgebungen beschaffen gewesen, unter welchen die religiösen Grundbegriffe der civilisirten Welt entstanden.

Sein Jesus ist geistreich aufgefasst, zart ausgeführt, eine Statuette aus Elfenbein. Dem Stile fehlte es an Sicherheit und Grösse, nicht an Feinheit.

Renan's Unentschiedenheit, seine Lust, zugleich Ja und Nein zu sagen, war ihm hier ab und zu ein Hinderniss. Voltaire hatte Nein, die Theologen hatten Ja gesagt. Uneinig mit beiden, wie er war, bestätigte und verwarf er zuweilen in einem Athemzuge. Sein ursprünglich allzu grosser Respect für die Ueberlieferung gereichte besonders den ältesten Ausgaben zum Nachtheile. Man kann ihn hier wie sonst nicht davon freisprechen, eine allzu nachlässige Quellen-Kritik betrieben zu haben. Indem er das vierte Evangelium als Quelle aus dem ersten christlichen Jahrhundert annimmt, gelangt er dahin, den Charakter Jesu auf unhistorische Weise anzuschwärzen. Sein Blick ist durch die Nebel der Zeiten hindurchgedrungen, und hat manchen Zug erschaut, welcher der grossen Gestalt wesentlich zuzugehören scheint. Zuweilen jedoch lebt er sich zu persönlich in sie ein, modernisirt sie unwillkürlich und legt ihr seine Lieblingseigenschaften bei, so zum Beispiel, wenn er Jesus den Gründer „der grossen Lehre von der transscendenten Geringschätzung“ nennt. Man kann sich manchmal des peinlichen Eindruckes nicht erwehren, er sei selbst Modell gestanden.

Renan liebt Jesus, wie er die grossen Sanften und Weisen liebt. Genau so liebt er Marcus Aurelius. Dagegen hat er eine lebhafte Antipathie gegen die Gewaltthätigen, die Fanatiker, die Männer der That in der Welt der Religion. Paulus ist ihm zuwider, gleichwie Luther.

Renan wuchs während der Behandlung seines grossen Gegenstandes. Je weiter die Arbeit gedieh, in desto höherem Grade wurde er ihr gewachsen. Je mehr er den Stoff unter seinen Händen sich formen sah, um so voller bemächtigte sich auch seiner das beruhigende Gefühl geistiger Ueberlegenheit. Der steigenden Ueberlegenheit aber gesellte sich steigende Gleichgiltigkeit gegen das Urtheil der Welt über ihn.

Es entwickelte sich bei ihm eine Menschenverachtung, so gross, dass sie gutmüthig erschien, es in der That auch war.

Sein immer weiterer, freierer Blick offenbarte sich in der zunehmenden Herrschaft über seinen Stoff. Deutschland besitzt verschiedene Fachmänner von dem Range Renan's, ja nicht wenige, die ihn an Gelehrsamkeit, sowie an streng wissenschaftlichem Geist überragen. Allein sie vertiefen sich so sehr in ihren Stoff, dass ihre Persönlichkeit sich ganz darin verliert. Sie schweben nicht über demselben. Sie sind Bücher- nicht Weltmenschen; Kritiker, nicht Baumeister; Forscher und Denker, nicht zugleich freie Geister und Künstler. Ein freigewordener Geist aber, der, über seinem Stoffe schwebend, diesen kraft seiner Lebenserfahrung behandelt – eben dies war Renan.

Diese spielende Herrschaft über die von ihm behandelten Gegenstände verdankte er jedoch dem seine Originalität zuletzt bestimmenden grossen Factor – Paris.

Paris gab ihm den tiefen Ekel vor der Pedanterie ein, lieh ihm überhaupt erst die letzte, volle Ueberlegenheit. Sie gestaltete sich zum Schlusse auch zur Ueberlegenheit über Paris; aber das Entscheidende war, dass allmälig der Bretagner zum Pariser, der Jünger Herder's zum Franzosen der Hauptstadt geworden war. Bis 1870 noch ein halber Deutscher, wurde er nach dem Kriege und dem Friedensschlusse ein ganzer Pariser und erhielt im Alter erst seine rechte Jugend. Das aber, was in den geistig massgebenden Pariser Kreisen dem guten Ton sein Gepräge gibt, ist formvolle Rücksichtslosigkeit.

Er hat viel von einzelnen Persönlichkeiten, viel von Berthelot als Denker, viel von George Sand als Schriftsteller gelernt (seine Landschaften erinnern an die ihren). Am meisten aber lernte er von Paris, und zuletzt war er ganz Pariser, wenn anders Jemand, der sechs- oder siebenerlei Culturen beherrscht, ja für sich allein eine kleine Culturwelt genannt werden kann, also zu heissen ist.

Anfangs hegte er gegen Béranger, um dessen gutmüthiger Flachheit willen, wie wegen des Gallisch-Populären in ihm, eine lebhafte Abneigung. Er endete damit, in einer Béranger verwandten Weise, wenn auch in weit höherer Potenz, als es dieser gewesen, gallisch populär, väterlich scherzhaft zu werden.

Er war zuletzt wie eine Quintessenz des französischen Geistes, ein Kraftauszug des feinsten, das dieser enthält. Mit dem eintretenden Greisenalter verklärte sich die Ueberlegenheit zu einer Art Serenitas, zu wolkenloser Heiterkeit und Klarheit.

Davon gibt die kleine Reihe philosophischer Schauspiele, die Renan in den Jahren 1878 bis 1886 herausgab, beredtes Zeugniss.

II

Obgleich heutigen Tages die Theater fast gänzlich Unterhaltungsanstalten für die Armen im Geiste, für jenen beträchtlichen Theil des Bürgerstandes, der nicht lesen kann oder mag, geworden sind, bewahrt die dramatische Form nichtsdestoweniger für Viele ihren Reiz. Es ist die bündigste, geschlossenste Form, in welcher man ein Lebensbild, eine Handlung kennen zu lernen vermag. Wer über zwei Stunden und nicht mehr verfügt, wird nicht nach einem Romane, sondern nach einem Schauspiel greifen. Er weiss, alles nicht streng zur Sache Gehörige ist hier ausgeschieden.

Auch andere Männer als eigentliche Dichter haben sich von der Gesprächsform angezogen gefühlt. Es sind das solche, deren Gedanken sich in Sphären bewegen, in welchen es keine unanfechtbare Wahrheit, keine volle Sicherheit gibt, wo vielmehr verschiedene Meinungen, Auffassungen, Ueberzeugungen zu Worte kommen können. Ausserhalb der Mathematik und der exacten Wissenschaften gibt es wenig unbedingt Sicheres, Vieles, worüber sich Verschiedenes für und wider sagen lässt. Innerhalb der Geisteswissenschaften ist beinahe Alles Gegenstand immer erneuerter Erörterung. Von diesem Gefühle beherrscht, schrieb Plato seine Werke in Dialogform. Das gleiche Gefühl führte in unseren Tagen Renan zu deren Anwendung. Kurz nach der Beendigung des französisch-deutschen Krieges schrieb er erst eine Reihe philosophischer Gespräche und brachte hierauf einige seiner Lieblingsideen in bestimmterer dramatischer Form zum Ausdrucke. In den Pausen zwischen seinen streng wissenschaftlichen Arbeiten hat er vier philosophische Schauspiele und ein Paar dialogisirte Prologe geschrieben.

Sein Ausgangspunkt als Dramatiker war Shakespeare's „Sturm“, welcher – an und für sich höchst merkwürdig als der wahrscheinliche Schlussstein an Shakespeare's dramatischem Bau, wie als diejenige Arbeit des Dichters, die mehr als irgend eine andere tief und deutlich symbolisch ist – Renan durch das Sinnbildliche der drei Hauptpersonen: Prospero, Caliban und Ariel, ergriff.

Caliban ist das formlose Naturwesen, der Urbewohner, halb Thier, halb Kannibale, roh und furchtbar, niedrig und dumm, eine Station erst auf dem Wege zum Menschthum. Prospero ist der Zukunftstypus einer höchsten Veredlung der Menschennatur, ein Wesen, das in gleich königlicher, genialer Weise sich die äussere Natur unterworfen und seine innere ins Gleichgewicht gebracht hat, alle Bitterkeit über erlittenes Unrecht in der Harmonie ertränkend, die seinem reichen Seelenleben entströmt.

Prospero beherrscht die Naturkräfte. Statt ihm aber den Zauberstab der Ueberlieferung zu leihen, hat Shakespeare die Naturkraft selber zu seinem dienstbaren Geist gemacht. Ariel, das ist der Geist. Shakespeare, so scheint es, hat sich selbst als jenen Magus auf der verzauberten Insel des Theaters darstellen wollen, dem der Lichtgeist Diener, der Geist der Rohheit Sklave ist.

Diese Gestalt musste auf Renan nothwendig einen starken Eindruck machen, passte sie doch ganz merkwürdig in den Ideengang hinein, zu dem seine Lebensansicht ihn geführt hatte. Früh hatte sich ihm die Erkenntniss aufgedrängt, dass das Werthvollste am Menschen ihn in allen weltlichen Beziehungen des Kampfes um das Dasein in einen Zustand der geringeren Widerstandskraft versetze. Echtes Talent, tiefinnige Güte, vollkommener Hochsinn sind häufig Bedingungen des Unterliegens. Wer im Spiele betrügt, wirft die meisten Augen, wer mit Schneiderhieben zur Hand ist, verwundet seinen Gegner.

Es wollte ihm scheinen, dass die Welt fast ausschliesslich von der Rohheit, der Unwahrheit, der Marktschreierei regiert werde. Kein Wunder also, dass Prospero aus seinem Reiche vertrieben wird.

Renan neigte zu der Ansicht, dass Alle, die da arbeiten und wirken, von der Weltenmacht zu einem höheren Zwecke kraft dessen ausgebeutet werden, was Hegel, der einen ungemeinen Einfluss auf Renan geübt, die List der Idee, er selbst jedoch den Macchiavellismus der Natur nannte.

Diese Ansicht hat eine stete Ironie in Renan's Haltung zur Folge gehabt. Er will sich zwar um Genüsse betrügen lassen, ohne Lohn arbeiten und entsagen, da doch alle Arbeit viel Entsagung fordert, allein er will dem All gegenüber, das er als alter Theologe gerne personificirt, eine Haltung bewahren, die bezeugt, er wisse sich getäuscht. Daher liegt ihm aller Pharisäismus so ferne. Er ist nicht stolz auf seine Tugenden. Er weiss, als tugendhaft wird er geprellt. Doch er willigt ein, sich prellen zu lassen.

Wenn Renan gleich Hegel und Schopenhauer an einen Macchiavellismus der Natur glaubt, so kommt es daher, dass ihm die Vorstellung eines Naturzweckes vorschwebt. Nun hat die moderne Wissenschaft diesen Begriff bekanntlich geschleift und erst wirkliche Fortschritte gemacht, nachdem er geschleift worden. Ueberall späht jetzt die Wissenschaft nach wirkenden Ursachen, wo man früher ohne Nutzen nach Zweckursachen gesucht hat. Jener grosse Theil der modernen Forschung, der in den Darwinismus mündete, hat seine Stärke darin, die Vorstellung von einem Zwecke in der Natur überflüssig gemacht zu haben. Was sich den Verhältnissen und Umgebungen anpasst, überlebt das Andere. Es nimmt sich nur aus, als entspräche es einem Zwecke, weil die Lebensmöglichkeit von der eingetretenen Aenderung abhing.

Der Darwinismus berührt indessen durchaus nicht die höchsten Fragen, beschäftigt sich nicht mit dem uranfänglichen Lebenstriebe, dem Streben (nisus), welches das Princip der Bewegung ist.

Die Mathematik ist bekanntlich eine grosse Tautologie. Wie verwickelt die Berechnungen und Messungen auch sein mögen, stets bleibt gleich viel auf beiden Seiten des Gleichheitszeichens, und Alles lässt sich auf den Identitätssatz a = a zurückführen. Aber auch das Weltall ist eine grosse Tautologie. Das Gesetz der Erhaltung der Kraft zeigt es uns als solche: kein Staubkorn und keine Bewegung kann verschwinden; Alles ist blosser Umsatz; bei der grossen Verbrennung wird nichts vernichtet; die Summe ist unabänderlich dieselbe.

Nichtsdestoweniger ist die Welt in keinem Zustande der Ruhe. Desshalb hält Renan sich für berechtigt, ein Ziel in der Natur vorauszusetzen und von einer Gottheit zu sprechen. Diese Gottheit ist der Lebenstrieb, und das Ziel ist, wie Hegel sagte, Bewusstsein. Die Natur strebt nach einem immer vollkommeneren Bewusstsein. Renan drückt dies so aus, dass die kleine Ernte an Vernunft, Hochsinn, Schönheitswerken und Weisheit, die jeder Planet im Laufe seiner Lebenszeit einzuheimsen vermag, der Endzweck dieses Planets sei, wie Gummi der des Gummibaumes. Wir glauben, es lasse sich in jedem Zeitalter ein kleiner Zuschuss an Vernunft und Güte beobachten, und leiten davon den Glauben an einen Fortschritt ab.

Wie aber diesen Fortschritt sichern, diesen endlichen kleinen Ernte-Ertrag?

Sein Schicksal kann zuweilen von einem Manne oder doch von einigen wenigen Männern abhängen. Nur zu leicht kann die Weltentwicklung unterbrochen werden. Der christliche Dogmatismus unterbrach sie ein Jahrtausend lang. Sie lässt sich von Barbarei, oder Inquisition, oder niederer Selbstsucht unterbrochen denken. Der einer allgemeinen Entwicklung förderlichen Menschen sind nur äusserst wenige, und leicht sind sie auszurotten oder lahmzulegen. Man bedenke nur, wie viele die Religionen und die Despotien zu Grunde gerichtet haben, oder nur Mächte, wie die Inquisition in Spanien, die Regierung in Russland.

Der Gedanke, die zwei Milliarden Menschen der Erde, einen um den andern zur Vernunft zu bekehren, ist ein leerer Traum. Die Bekehrung ist unmöglich, aber auch unnöthig. Es handelt sich nicht darum, dass alle Menschen das Wahre erkennen, sondern darum, dass es von einigen Wenigen erkannt, und die Ueberlieferung bewahrt werde. Abel's Theorien sind um nichts weniger unanfechtbar, weil es auf Erden nur etwa hundert Menschen gibt, die sie verstehen. Für die Wahrheit ist nicht nöthig, dass alle Welt sich zu ihr bekenne; die sie nicht verstehen, sollen sich ihr nur beugen.

Die höchste Cultur aber kann von der Menge weder verstanden noch gewürdigt werden. Da gilt es denn, sie gegen die Menge sicherzustellen. In alten Tagen kam die Gefahr besonders von der Kirche. In den unseren wird die Entwicklung vornehmlich von der herrschenden Anschauung, der Staat brauche nur das materielle Wohl der Individuen im Auge zu haben, bedroht.

Ein Genie ist ja etwas sehr Seltenes und Kostbares. Es scheint, dass etliche Millionen Menschen auf Eine für den Fortschritt massgebende Persönlichkeit kommen, ja dass, um Geister ersten Ranges hervorzubringen, Gesellschaftskörper von dreissig, vierzig Millionen Menschen vonnöthen seien. Diese Geister aber werden von der Mittelmässigkeit instinktiv gehasst. Sie weiss Leinwand, allenfalls Tuch zu würdigen, nicht aber Spitzen.

Der grosse Mensch ist Renan gleichwohl kein Luxus. In Wirklichkeit bedeutet er das vorläufige Ziel, und worauf es mit Rücksicht auf die Ziele der Natur ankommt, ist denn, dass der grosse Mensch zur Macht gelange. Nur so ist die Vernunftentwicklung sicherzustellen.

In der Urzeit galt der bedeutende Mann für einen Zauberer. Man zitterte vor ihm. Die Brahmanen haben jahrhundertelang vermöge des Aberglaubens regiert, dass ihr Blick dem Angehörigen einer niederen Kaste, auf den er falle, tödtlich sei. Die Kirche, die einst die Culturmacht war, hatte die Höllenstrafen als Waffe – eine gar wirksame, so lange an sie geglaubt wurde. Als die Königsmacht die Culturträgerin wurde, schuf auch sie sich ihre Waffen: Heere und Kanonen, Richter und Gefängnisse. Ein Jeder ist nur stark im Verhältnisse zu der Furcht, die er einzuflössen vermag.

Das von Renan erträumte Ziel ist demnach, die Träger der Entwicklung, die Culturträger mit den entscheidenden Machtmitteln auszustatten, sie aufs neue zu einer Art von Zauberern zu machen. In ihren Händen allein würde die Macht nicht odios, sondern wohlthätig sein. Sie würden als die menschgewordene Vernunft erscheinen, als eine wahrhaft unfehlbare päpstliche Macht. Mit den Schreckmitteln, welche die moderne Wissenschaft in ihre Hand legte, würden sie einen Terrorismus der Vernunft einführen.

Wir erleben in unseren Tagen, wo wir das Dynamit in den Händen der zerstörenden und die Millionenheere mit den verfeinerten Mordwerkzeugen in der Gewalt der reactionären Elemente sehen, eine Schreckensherrschaft der Brutalität. Renan stellt sich nun vor, dass der Bund aller der höchsten und reinsten Begabungen unwiderstehlich sein würde, weil er über die Existenz des Planeten selbst geböte. Er übersieht merkwürdigerweise, dass selbst wenn dies nicht eine blosse Phantasie wäre, sich die Drohung mit der Vernichtung des Planeten aus dem Grunde als unbrauchbar erwiese, weil sie den Widersetzigen gegenüber sich nicht stückweise ausführen liesse.

Zur selben Zeit, als Eduard v. Hartmann den Traum einer freiwilligen Selbstvernichtung der Menschheit auf ähnliche Art durch einen Beschluss der höchststehenden Menschen träumte, hat Renan von dieser Drohung als Mittel in der Hand der höchststehenden Wesen geträumt. Wesen müssen sie genannt werden, nicht Menschen; denn sie sind es, die später bei Nietzsche mit dem Namen Uebermenschen belegt werden.

Ist nur einmal der Begriff der Entwicklung gesichert, wird, nach Renan's Meinung, wie die Menschheit aus der Thierheit hervorging, das Göttliche aus dem Menschlichen hervorgehen können. Wesen werden entstehen können, welche die Menschen so gebrauchen, wie jetzt wir die Thiere.

Er hat zunächst im Scherze Phantasien über eine Art Stuterei solcher genialer Herrschergeister, eine Art Asgaard, entwickelt. Allen Ernstes glaubt er an die Möglichkeit des Entstehens einer höheren Menschenart, und an diesem Punkte eben ist es, wo Renan die Anknüpfung an die Shakespeare'sche Dichtung sucht.

Prospero ist der Zukunftsmensch, der Uebermensch. Renan erblickt daher in ihm das erste Exemplar der höheren Menschheit, den wirklichen Zauberer.

Die Handlung des Schauspiels „Caliban“ bildet Caliban's Empörung gegen Prospero und der siegreiche Ausgang dieser Empörung.

Folgendes bildet die Voraussetzung des Stückes: Jedes Wesen ist undankbar, alle Erziehung kehrt sich wider den Erzieher; das Erste ist stets, die Waffen, die er die subalterne Persönlichkeit gebrauchen lehrte, gegen ihn zu kehren. So im Verhältnisse der Klassen zu einander, so im Verhältniss der einzelnen Persönlichkeiten im öffentlichen Leben.

Caliban verabscheut seinen Erzieher, Wohlthäter und Zuchtmeister Prospero. Ariel hingegen verehrt ihn, denn er erfasst Prospero's Gedanken. Prospero glaubt, dass Gott die Vernunft ist, und arbeitet darauf hin, dass Gott, das heisst die Vernunft, sich die Welt mehr und mehr unterthan mache. Prospero glaubt an den Gott, der das Genie im genialen Manne, die Güte in der zärtlichen Seele, überhaupt das allgemeine Streben nach der Existenz dessen ist, was allein in Wahrheit existirt.

Man verachtet den Herzog an seinem Hofe, wie man einen Regenten, der gelehrt ist, verachtet. Man hat nur vor demjenigen Respect, der todtschlägt, und Prospero wird von einer „Revolution der Verachtung“ bedroht.

Wir sehen hierauf Caliban den gemeinen Mann aufwiegeln. Er spiegelt diesem vor, Prospero beute das Volk aus. Es gelte, sich seiner Bücher und Destillirkolben zu bemächtigen. Man bittet Caliban, die allgemeine Glückseligkeit zu decretiren. Er verspricht, es zu thun, wenn die Zeit dazu komme: Später, später! – Es lebe Caliban, der grosse Bürger! – Er empfängt Processionen, Deputationen und Gesuche, wird Volksredner, verspricht, Alle zufrieden zu stellen: Wir sind aus euch hervorgegangen, wir wollen für euch wirken, wir existiren durch euch.

Abends legt er sich in Prospero's Bett zur Ruhe. Er grübelt: Ich war ungerecht gegen Prospero. Welche Begehrlichkeit nach Genuss! Welches Umsturzverlangen! Eine Regierung muss Widerstand leisten. Ich will Widerstand leisten.

Schon ist er hoch conservativ, sieht ein, dass Schlösser, Hoffeste, fürstliche Pracht die Zierde des Lebens seien.

Da Künstler und Schriftsteller die Ehre eines Reiches sind, will er Kunst und Literatur heben und fördern. Doch der Mittelpunkt aller seiner Gedanken bildet Imperia, die reizende Courtisane – wohl bekannt aus Balzac's „Contes drôlatiques“ – die kürzlich bei einem Feste in Prospero's Palaste, bei welchem verschiedene Lebensanschauungen zur Erörterung gekommen, die Sache der Liebe verfocht. Er will ihre nähere Bekanntschaft machen.

Es bleibt Prospero nicht lange unbekannt, dass Caliban, sein Thier, sein Ablöser geworden. Ariel's Phantasmagorien haben sich den Schaaren Caliban's gegenüber als unwirksam erwiesen; Niemand unter diesen Schaaren glaubt mehr an Zauber, und die Aufrührer haben Prospero's Pulver und Kriegsmaschinen in Gebrauch genommen. Bei der nun folgenden Berathung über die zu ergreifenden Massregeln äussert sich Renan über den geringen Nutzen, welchen er sich von dem Elementar-Unterrichte verspricht, indem er „Simplicon“ die Replik in den Mund legt, „allgemeiner obligatorischer Schulunterricht würde allen Uebeln abhelfen“. Der gemässigte Bonaccorso aber spricht das erlösende Wort, die neue Regierung scheine wohlgesinnt; Caliban sei bereits der Mittelpunkt der gemässigten Partei.

Die Inquisition tritt auf. Caliban beschützt Prospero. Er ist nicht nur massvoll, er ist anti-clerical, hat also eine gute Eigenschaft mehr. Allmälig beschützt er Alles und Alle: den Papst, die Künstler, die Wissenschaften und Prospero gegen den päpstlichen Legaten: „Ich will ihn nicht ausliefern, sondern ausnützen“.

Prospero resignirt, und die Moral des Stückes wird vom Prior des Karthäuser-Klosters ausgesprochen: „Ist er nur ordentlich gekämmt und gewaschen, so wird Caliban sehr präsentabel“.

Es liegt eine Verachtung, deren Tiefe sich schwer ermessen lässt, in dieser Huldigung der einst revolutionären, jetzt moderaten oder conservativen Demokratie. Und ebenso birgt sich eine tiefe Ueberzeugung von der Nichtigkeit des Weltlebens hinter dem leichten Spiel der Handlung.

Das Gespräch der Hofleute im zweiten Acte erörtert die Frage nach einem festen Halt im Leben. Die Familie, schlägt der Eine vor. – Da müsste man überzeugt sein, die eigene Familie sei die beste, und sich sogar davon nicht beirren lassen, dass alle Anderen der gleichen Ueberzeugung sind. Das ist denn also Vorurtheil, Eitelkeit. Und was von der Familie gilt, gilt auch vom Vaterlande. Man geht nur darin auf, so lange man an dessen besondere Vortrefflichkeit glaubt. – Nein, sagt ein Zweiter, auserlesene Genüsse, das ist das einzig Solide. – Gut, wenn nun aber Alle geniessen wollen? – So halten wir sie mit gewappneter Hand nieder. – Wie aber, wenn die Waffe sich gegen den kehrt, der sie gebrauchen will? Nein, besser doch, sich auf die Nation zu stützen. – Was wir unter Nation verstehen, entspricht nur den Interessen einer Minderzahl. Wie soll man in der Zukunft die Vielen dazu bringen, ihr Leben für die Interessen der Wenigen aufs Spiel zu setzen? – Dadurch, dass man sie aufklärt? – Keineswegs, gerade im Gegentheile. Sich für eine Sache todtschlagen zu lassen, ist eine grosse Naivetät, die grösste Naivetät, da sie nicht wieder gut zu machen ist. Bedenken Sie, dass Millionen sich todtschlagen liessen für collective Wesen, wie der Staat, die Kirche! – Gleichviel. Nun wären sie dennoch todt. – Wenn Türken und Christen sich schlagen, so glauben sie ins Paradies zu kommen, wofern sie in dem heiligen Kriege fallen. Gibt es aber das Paradies der Einen, so gibt es das der Anderen nicht. Noch denken sie nicht, dass es also wahrscheinlich keines der beiden Paradiese gebe. Eitelkeit! – Sehen Sie die Türken! Man treibt sie mit Hilfe falscher Wechsel auf das ewige Leben in die Schlacht. – Solche falsche Wechsel sollten verboten werden. Sie führen eine Inferiorität der civilisirten Völkerschaften, die nicht daran glauben, herbei. Der Roheste bleibt Sieger und wird als Sieger noch roher. – Mit anderen Worten: Die Aufklärung vernichtet die Widerstandskraft der Völker. Alles ist eitel. Die Philosophie, welche die Vorurtheile zerstört, zerstört damit das Fundament des Lebens selbst.

Nur die Schönheit tritt während dieser Niedermetzlung anerkannter Mächte, in der Gestalt Imperia's verkörpert, als eine bewunderte Wirklichkeit hervor. Wie zum Trotze, doch nicht aus Trotz hat Renan in seinem Schauspiele die grosse Courtisane zur Vertreterin der Schönheit und Liebe gemacht. Sie personificirt die Welt der Schönheit, wie Prospero die des Gedankens. Balzac hatte sie mit künstlerischer Begeisterung gemalt; Renan erkennt sie als vollberechtigte Lebensmacht an und verhandelt mit ihr wie von Macht zu Macht.

Er lässt sie die Unvergänglichkeit der Schönheit und der Liebe verkünden. Alles ist flüchtig, doch das Flüchtige ist zuweilen göttlich. Seht den Schmetterling. Nur innerhalb eines ganz kurzen Abschnittes im Leben des Wurmes existirt er, wie im Dasein der Pflanze nur wenige Augenblicke die Blume ist. Die Liebe aber thut das Wunder, dass das plumpe kriechende Insect beflügelt und ideal wird. Das Leben des Falters ist während einiger Stunden das Höchste: blühen, lieben, sterben.

Imperia kommt aufs neue als Brunissende, die Liebhaberin des Papstes, im Schauspiele „Der Jungbrunnen“ vor, hier leichtfertiger, doch in den Augen Renan's deshalb nicht minder sympathisch. Sie ist hier tiefer weiblich, ist eitel Stärke und Schmachten. Sie hat jede Schwäche und nimmt dennoch die Welt in Besitz. Sie vertheilt alle Einnahmen des päpstlichen Stuhles nach Lust und Laune. Um so besser! heisst es. Des Weibes Schönheit ist ein Gut von höchstem Range, von gleich hohem Range wie Vernunft und edle Gesinnung: „Alle geistlichen Einnahmen sollten zu Toiletten-Ausgaben für schöne Frauen und zu Jahrgeldern für geistvolle Männer verwendet werden“.

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