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Friedrich Nietzsche in seinen Werken
Nur aus der innersten Bedürftigkeit seiner ganzen Natur, nur aus dem quälendsten Heilungsverlangen heraus erschliessen sich ihm neue Erkenntnisse. Kaum aber ist er völlig in ihnen aufgegangen, kaum hat er an ihnen ausgeruht und sie seiner eignen Kraft assimilirt, – da ergreift es ihn auch schon wieder wie ein neues Fieber, etwas wie ein unruhig drängender Ueberschuss an innerer Energie, der zuletzt seinen Stachel gegen ihn selbst kehrt und ihn an sich selber erkranken lässt. »Das Zuviel von Kraft erst ist der Beweis der Kraft», sagt Nietzsche im Vorwort zur Götzen-Dämmerung (s. I); – in diesem Zuviel thut seine Kraft sich Schmerzen an, tobt sie sich aus in leidvollen Kämpfen, reizt sich auf zu den Qualen und Erschütterungen, an denen sein Geist fruchtbar werden will.4 Mit der stolzen Behauptung: »Was mich nicht umbringt, macht mich stärker!« (Götzen-Dämmerung, Sprüche und Pfeile 8) geisselt er sich, – nicht bis zum Umbringen, nicht bis zum Tode, aber eben bis zu jenen Fiebern und Verwundungen, deren er bedarf. Dieses Schmerzheischende zieht sich durch die ganze Entwicklungsgeschichte Nietzsches als die eigentliche Geistesquelle in ihr; er spricht es am treffendsten in den Worten aus: »Geist ist das Leben, das selber ins Leben schneidet: an der eignen Qual mehrt es sich das eigne Wissen, – wusstet ihr das schon? Und des Geistes Glück ist dies: gesalbt zu sein und durch Thränen geweiht zum Opferthier, – wusstet ihr das schon?.. Ihr kennt nur des Geistes Funken: aber ihr seht den Amboss nicht, der er ist, und nicht die Grausamkeit seines Hammers!« (Also sprach Zarathustra II 33.) »Jene Spannung der Seele im Unglück… ihre Schauer im Anblick des grossen Zügrundegehens, ihre Erfindsamkeit und Tapferkeit im Tragen, Ausharren, Ausdeuten, Ausnützen des Unglücks, und was ihr nur je von Tiefe, Geheimniss, Maske, Geist, List, Grösse geschenkt worden ist: – ist es nicht ihr unter Leiden, unter der Zucht des grossen Leidens geschenkt worden?« (Jenseits von Gut und Böse 225.)
Und immer wieder tritt Zweierlei an diesem Vorgang besonders auffällig hervor: Einmal der enge Zusammenhang von Gedankenleben und Seelenleben in seinem Wesen, die Abhängigkeit seines Geistes von den Bedürfnissen und Erregungen seines Innern. Dann aber die Eigenthümlichkeit, dass aus dieser so engen Zusammengehörigkeit sich immer von Neuem Leiden ergeben müssen; jedesmal bedarf es einer höhen Gluth der Seele, wo es zu höchster Klarheit, zu hellem Licht der Erkenntniss kommen soll, – aber nie darf diese Gluth in wohlthuender Wärme ausströmen, sondern muss verwunden mit sengenden Feuern und brennenden Flammen: auch hier gehört, – wie er es in dem oben angeführten Briefe ausdrückt, – »das Leiden zur Sache«.
Wie Nietzsches körperliches Leiden der Anlass zu seiner äusseren Vereinsamung wurde, so muss auch in seinem psychischen Leidenszustand einer der tiefsten Gründe gesucht werden für seinen scharf zugespitzten Individualismus, für die strenge Betonung des »Einzelnen« als des »Einsamen« in Nietzsches besonderem Sinn. Die Geschichte des »Einzelnen« ist durchaus eine Leidensgeschichte und nicht irgend welchem allgemeinen Individualismus zu vergleichen, – ihr Inhalt lautet viel weniger: »Selbstgenügsamkeit« als: »Selbsterduldung«.Betrachtet man das leidensvolle Auf und Nieder seiner Geisteswandlungen, dann liest man die Geschichte eben so vieler Selbstverwundungen, und es verbirgt einen langen, schmerzlichen Heldenkampf mit sich selbst, wenn Nietzsche über seine Philosophie die kühnen Worte setzt: »Dieser Denker braucht Niemanden, der ihn widerlegt: er genügt sich dazu selber!« (Der Wanderer und sein Schatten 249.)
Seine ausserordentliche Fähigkeit, sich immer wieder in die härteste Selbstüberwindung einzuleben, in jeder neuen Erkenntniss immer wieder heimisch zu werden, scheint nur da zu sein, um die Trennung vom Neuerrungenen jedesmal um so erschütternder zu gestalten. »Ich komme! brich Deine Hütte ab und wandre mir entgegen!« gebietet ihm der Geist, und mit trotziger Hand macht er sich selbst obdachlos und sucht von Neuem das Dunkel, das Abenteuer und die Wüste auf mit der Klage auf den Lippen: »Ich muss den Fuss weiter heben, diesen müden, verwundeten Fuss: und weil ich muss, so habe ich oft für das Schönste, das mich nicht halten konnte, einen grimmigen Rückblick, – weil es mich nicht halten konnte!« (Fröhliche Wissenschaft 309.) Sobald ihm in einer Anschauungsweise wahrhaft wohl geworden ist, erfüllt sich an ihm selbst sein Wort: »Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus.« (Jenseits von Gut und Böse 73.)5
Der Meinungswechsel, der Wandlungsdrang stecken daher der Philosophie Nietzsches tief im Herzen, sie sind durchaus bestimmend für die Art seines Erkennens. Nicht umsonst nennt er sich im Schlusslied von »Jenseits von Gut und Böse« einen: »Ringer, der zu oft sich selbst bezwungen, – Zu oft sich gegen eigne Kraft gestemmt… Durch eignen Sieg verwundet und gehemmt.«
Im Heroismus der Bereitwilligkeit, die eigne Ueberzeugung preiszugeben, nimmt dieser Drang in seinem Innern geradezu die Stelle der Ueberzeugungstreue6 ein. »Wir würden uns für unsere Meinungen nicht verbrennen lassen:« heisst es in Der Wanderer und sein Schatten (333), »wir sind ihrer nicht so sicher. Aber vielleicht dafür, dass wir unsere Meinungen haben dürfen und ändern dürfen.« Und in der Morgenröthe (370) spricht sich diese Gesinnung in den schönen Worten aus: »Nie etwas zurückhalten oder Dir verschweigen, was gegen Deinen Gedanken gedacht werden kann. Gelobe es Dir! Es gehört zur ersten Redlichkeit des Denkens. Du musst jeden Tag auch Deinen Feldzug gegen Dich selber führen. Ein Sieg und eine eroberte Schanze sind nicht mehr Deine Angelegenheit, sondern die der Wahrheit, – aber auch Deine Niederlage ist nicht mehr Deine Angelegenheit!« Darüber steht als Titel: »Inwiefern der Denker seinen Feind liebt.« Aber diese Feindesliebe entspringt der dunklen Ahnung, dass im Feind ein künftiger Genosse verborgen sein könne, und dass nur des Unterliegenden neue Siege harren: sie entspringt der Ahnung, dass für ihn der stets gleiche, schmerzliche Seelenprocess der Selbstverwandlung unumgängliche Bedingung aller Schaffenskraft sei. »Der Geist ist es, der uns rettet, dass wir nicht ganz verglühen und verkohlen… Vom Feuer erlöst, schreiten wir dann, durch den Geist getrieben, von Meinung zu Meinung… als edle Verräther aller Dinge.« (Menschliches, Allzumenschliches, I 637.) » – wir müssen Verräther werden, Untreue üben, unsere Ideale immer wieder preisgeben. (Menschliches, Allzumenschliches, I 629.) Dieser Einsame musste gleichsam sich selber vervielfältigen, in eine Mehrheit von Denkern zerfallen, in dem Masse, als er sich in sich selber abschloss; – nur so vermochte er geistig zu leben. Der Selbstverwundungstrieb war nur eine Art seines Selbsterhaltungstriebes: nur indem er sich immer wieder in Leiden stürzte, entlief er seinen Leiden. »Unverwundbar bin ich allein an meiner Ferse!.. Und nur wo Gräber sind, gibt es Auferstehungen!.. Also sang Zarathustra;« (II 46). – Er, zu dem das Leben einst »dies Geheimniss redete«: »Siehe, sprach es, ich bin das, was sich immer selber überwinden muss« (II 49).7
Ueber nichts hat wohl Nietzsche so oft und so tief nachgedacht, wie über dieses sein eignes Wesensräthsel, und über nichts können wir uns daher aus seinen Werken so gut unterrichten wie gerade hierüber: im Grunde waren ihm alle seine Erkenntnissräthsel nichts anderes. Je tiefer er sich selbst erkannte, desto rückhaltsloser wurde seine ganze Philosophie zu einer ungeheuren Widerspiegelung seines Selbstbildes, – und desto naiver legte er es dem Allbilde als solchem unter. Wie unter den Philosophen abstracte Systematiker ihre eignen Begriffe zu einer Weltgesetzlichkeit verallgemeinert haben, so verallgemeinert Nietzsche seine Seele zur Weltseele. Aber um sein Bild zu zeichnen, bedarf es nicht erst der Zurückführung seiner sämmtlichen Theorien auf ihn selbst, wie es in den folgenden Theilen geschieht. Ein gewisses Verständniss dafür ist auch schon hier möglich, wo Nietzsche lediglich in Bezug auf seine geistige Veranlagung betrachtet wird, Der Reichthum derselben ist zu mannigfaltig, als dass er in einer bestimmten Ordnung erhalten werden könnte; die Lebendigkeit und der Machtwillen jedes einzelnen Talentes und Geistestriebes führen nothwendig zu einer nie beschwichtigten Nebenbuhlerschaft aller Talente. In Nietzsche lebten in stetem Unfrieden, nebeneinander und sich gegenseitig tyrannisirend, ein Musiker von hoher Begabung, ein Denker von freigeisterischer Richtung, ein religiöses Genie und ein geborener Dichter. Nietzsche selbst versuchte, daraus die Besonderheit seiner geistigen Individualität zu erklären, und erging sich häufig in eingehenden Gesprächen darüber.
Er unterschied zwei grosse Hauptgruppen von Charakteren: solche, deren verschiedene Regungen und Triebe in Harmonie zueinander stehen, eine gesunde Einheit bilden, und solche, deren Triebe und Regungen sich gegenseitig hemmen und befehden. Die erste Gruppe verglich er, – innerhalb des einzelnen Individuums, – mit dem Zustande der Menschheit zur Zeit des Heerdenwesens, vor aller staatlichen Gliederung: wie dort der Einzelne seine Individualität und sein Machtgefühl nur besitzt im geschlossenen Ganzen der Heerde, so hier die einzelnen Triebe im Ganzen der geschlossenen Persönlichkeit, deren Inbegriff sie bilden. Die Naturen der zweiten Gruppe dagegen leben in ihrem Innern, wie die Menschen bei einem Kriege Aller gegen Alle leben würden; – die Persönlichkeit selbst löst sich gewissermassen in eine Unsumme von eigenmächtigen Triebpersönlichkeiten auf, in eine Subject-Vielheit. Dieser Zustand wird nur überwunden, wenn von aussen her eine höhere Macht, eine stärkere Autorität geschaffen werden kann, die über Alle zu herrschen weiss: gleich einem Gesetz staatlicher Gliederung, für das es nur unterworfene Gewalten gibt. Denn was in den zuerst geschilderten Naturen ganz instinctmässig vor sich geht – die Einordnung des Einzelnen ins Ganze, – das muss hier erst erobert und den tyrannischen Einzelgelüsten abgezwungen werden als eine unerbittlich feste Rangordnung der Triebe untereinander.8
Man sieht, hier ist der Punkt, an welchem Nietzsche die Möglichkeit einer Selbstbehauptung als Ganzes durch das Leiden alles Einzelnen aufgegangen ist. Hier liegt wie in einer Knospe eingeschlossen die ursprüngliche Bedeutung seiner späteren Decadenz-Lehre mit dem Grundgedanken: es giebt die Möglichkeit eines höchsten Vermögens und Schaffens durch ein beständiges Erdulden und Verwunden. Mit einem Wort: hier ging ihm die Bedeutung des Heroismus als Ideal auf. Die eigene qualvolle Unvollkommenheit riss ihn dem Ideal und dessen Tyrannei entgegen: »Unsere Mängel sind die Augen, mit denen wir das Ideal sehen.« (Menschliches, Allzumenschliches, II 86).
»Was macht heroisch? zugleich seinem höchsten Leide und seiner höchsten Hoffnung entgegengehen« sagt er (Fröhliche Wissenschaft 268). Und ich füge dem noch drei Aphorismen bei, die er mir einmal niederschrieb, und die mir seine Auffassung mit besonderer Schärfe zu verdeutlichen scheinen:
»Der Gegensatz des heroischen Ideals ist das Ideal der harmonischen Allentwicklung, – ein schöner Gegensatz und ein sehr wünschenswerther! Aber nur ein Ideal für grundgute Menschen. (Zum Beispiel: Goethe).9
Weiter: »Heroismus – das ist die Gesinnung eines Menschen, der ein Ziel erstrebt, gegen welches gerechnet er gar nicht mehr in Betracht kommt. Heroismus ist der gute Wille zum absoluten Selbst-Untergang.«
Und als drittes: »Menschen, die nach Grösse streben, sind gewöhnlich böse Menschen; es ist ihre einzige Art, sich zu ertragen.« Das Wort »böse« will hier ebenso wie oben das Wort »gut« weder im Sinn des landläufigen Urtheils noch überhaupt im Sinne eines Urtheils genommen werden, sondern blos als Bezeichnung eines Thatbestandes: und als eine solche bezeichnet es für Nietzsche stets den »innern Krieg« in einer Menschenseele, – dasselbe, was er später »Anarchie in den Instincten« nennt. In seiner letzten Schaffensperiode hat sich ihm, auf dem Wege einer bestimmten Gedankenentwicklung, das Bild dieses Seelenzustandes bis zum Culturbilde der Menschheit ausgedehnt; die Losungsworte heissen da: Innenkrieg=Décadence, und Sieg=Selbstuntergang der Menschheit zur Erschaffung einer Uebermenschheit. Ursprünglich aber handelt es sich für ihn um sein eigenes Seelenbild.
Er unterscheidet nämlich die harmonische oder einheitliche und die heroische oder vielspältige Naturanlage als die beiden Typen des handelnden und des erkennenden Menschen, mit anderen Worten: den Typus seines Wesens-Gegensatzes und seinen eigenen.
Zum handelnden Menschen wird ihm der Ungetheilte und Unzersetzte, der Instinct-Mensch, die Herrennatur. Wenn dieser seiner natürlichen Entwicklung folgt, muss sein Wesen sich immer selbstsicherer und fester zuspitzen und seine gedrängte Kraft in gesunden Thaten sich entladen. Die Hemmnisse, welche die Aussenwelt ihm möglicherweise entgegenstellt, enthalten zugleich eine Anregung und Förderung dafür: denn nichts ist ihm naturgemässer, als der tapfere Kampf nach aussen hin, in nichts erweist sich seine ungebrochene Gesundheit so sehr als in seiner Kriegstüchtigkeit. Mag sein Intellect klein oder gross sein: in jedem Fall steht er im Dienst dieser frischen Wesenskraft und dessen, was ihr wohl thut und noth thut, – er hat sich ihr in seinen Zielen nicht entgegengesetzt, er hat sie nicht zersetzt, er folgt nicht eignen Wegen.
Ganz anders der erkennende Mensch. Anstatt nach einem festen Zusammenschluss seiner Triebe zu suchen, der sie schützt und erhält, lässt er sie so weit als irgend möglich auseinanderlaufen; je breiter das Gebiet, das sie zu umfassen lernen, desto besser, je mehr der Dinge, bis zu denen sie ihre Fühlhörner ausstrecken, und die sie betasten, sehen, hören, riechen, desto tüchtiger sind sie ihm für seine Zwecke, – für die Zwecke des Erkennens. Denn ihm ist nunmehr »das Leben ein Mittel der Erkenntniss« (Fröhliche Wissenschaft 324) und erruft seinen Genossen zu (Fröhliche Wissenschaft 319): »Wir selber wollen unsere Experimente und Versuchstiere sein!« So gibt er sich selbst freiwillig als Einheit auf, – je polyphoner sein Subject, desto lieber ist es ihm:
»Scharf und milde, grob und fein,Vertraut und seltsam, schmutzig und rein,Der Narren und Weisen Stelldichein:Dies Alles bin ich, will ich sein,Taube zugleich, Schlange und Schwein!«(Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 11.)Denn wir Erkennenden, sagt er, müssen dankbar sein »gegen Gott, Teufel, Schaf und Wurm in uns… mit Vorder- und Hinterseelen, denen Keiner leicht in die letzten Absichten sieht, mit Vorder- und Hintergründen, welche kein Fuss zu Ende laufen dürfte, wir die geborenen, geschworenen, eifersüchtigen Freunde der Einsamkeit…« (Jenseits von Gut und Böse 44.) Der Erkennende hat die Seele, welche »die längste Leiter hat und am tiefsten hinunter kann… die umfänglichste Seele, welche am weitesten in sich laufen und irren und schweifen kann;… die sich selber fliehende, die sich selber im weitesten Kreise einholt; die weiseste Seele, welcher die Narrheit am süssesten zuredet: … die sich selber bebendste, in der alle Dinge ihr Strömen und Wiederströmen und Ebbe und Fluth haben…« (Also sprach Zarathustra III 82.)
Mit solcher Seele wird man zum »Tausendfuss und Tausend-Fühlhorn« (Jenseits von Gut und Böse 205), immer im Begriff, sich selbst zu entlaufen, um sich bis in fremdes Wesen hinein zu erstrecken: »Wenn man erst sich selber gefunden hat, muss man verstehen, sich von Zeit zu Zeit zu verlieren – und dann wieder zu finden: vorausgesetzt, dass man ein Denker ist. Diesem ist es nämlich nachtheilig, immer an Eine Person gebunden zu sein.« (Der Wanderer und sein Schatten 306.) Das Gleiche besagen die Verse (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 33):
»Verhasst ist mir's schon, selber mich zu führen!Ich liebe es, gleich Wald- und Meeresthieren,Mich für ein gutes Weilchen zu verlieren,In holder Irrniss grüblerisch zu hocken.Von ferne her mich endlich heimzulocken,Mich selber zu mir selber – zu verführen.«Das Versehen ist überschrieben »Der Einsame«, d. h. der von den Anforderungen und Kämpfen der Aussenwelt möglichst Abgeschiedene; denn kriegstüchtig nach aussen hin wird ein solches Innenleben in dem Masse immer weniger, je vollkommener es benommen und bewegt ist von den Kriegen, Siegen, Niederlagen und Eroberungen innerhalb seiner eignen Triebe. In der Einsamkeit seiner geistigen Selbstversenkung und Selbsterweiterung sucht es vielmehr eine Hülle, die es schonend behüte vor den lauten und verwundenden Lebensereignissen draussen, – steht es doch schon ohnedies in Kampf und Wunden; gilt doch von diesem Erkennenden die Schilderung: – das ist ein Mensch, der beständig ausserordentliche Dinge erlebt, sieht, hört, argwöhnt, hofft, träumt; der von seinen eigenen Gedanken wie von Aussen her… als von seiner Art Ereignissen und Blitzschlägen getroffen wird.« (Jenseits von Gut und Böse 292.)
Denn die kriegerische Stellung der Triebe zu einander in seinem Innern ist damit nicht aufgehoben, sondern eher gesteigert: »Wer aber die Grundtriebe des Menschen darauf hin ansieht, wie weit sie gerade hier als inspirirende Genien (oder Dämonen und Kobolde – ) ihr Spiel getrieben haben mögen, wird finden… dass jeder Einzelne von ihnen gerade sich gar zu gerne als letzten Zweck des Daseins und als berechtigten Herrn aller übrigen Triebe darstellen möchte. Denn jeder Trieb ist herrschsüchtig und als solcher versucht er zu philosophiren« (Jenseits von Gut und Böse 6).
Daher grade legt die Erkenntniss des Erkennenden ein »entscheidendes Zeugniss dafür ab, wer er ist, – das heisst, in welcher Rangordnung die innersten Triebe seiner Natur zu einander gestellt sind« (ebendaselbst).
Trotzdem aber wird durch das Erkennen in diesem Innen-Krieg eine Verwandlung vollzogen, die demselben eine neue Bedeutung gibt, – eine rettende und erlösende Bedeutung: in der Erkenntniss ist ein allen Trieben gemeinsames Ziel gegeben, eine Richtung, der ein jeder von ihnen insofern zustrebt, als sie alle das Nämliche erobern wollen. Die Zersplitterung des Beliebens, die Tyrannei der Willkür ist damit gebrochen. Die Triebe halten an ihrer »Subjects-Vielheit« fest, aber sie unterstellen dieselbe einer höheren Macht, die ihnen als Dienern und Werkzeugen befiehlt; sie bleiben wild und kriegerisch, aber sie werden in ihrem Kriegs-Ziel unvermerkt zu Helden, die zu kämpfen und zu bluten berufen sind; – das heroische Ideal ist inmitten ihrer Selbstsucht aufgerichtet und zeigt den für sie einzig möglichen Weg zur Grösse. So ist die Gefahr der Anarchie beseitigt zu Gunsten eines sichern »Gesellschaftsbaues der Triebe und Affecte«.
Ich erinnere mich eines mündlichen Ausspruches von Nietzsche, der sehr bezeichnend diese Freude des Erkennenden an der umfassenden Breite und Tiefe seiner Natur ausdrückt, – die Lust, die daraus entspringt, dass er sein Leben nunmehr als ein »Experiment des Erkennenden« (Fröhliche Wissenschaft 324) auffassen darf: »Einer alten, wetterfesten Burg gleiche ich, die viele versteckte Keller und Unterkeller hat; in meine eignen verborgensten Dunkelgänge bin ich noch nicht ganz hinabgekrochen, in meine unterirdischen Kammern bin ich noch nicht gekommen. Sollte mit ihnen nicht alles unterbaut sein? sollte ich nicht aus meiner Tiefe zu allen Oberflächen der Erde hinaufklettern können? sollten wir nicht auf jedem Dunkelgang zu uns selber wiederkehren?«
Dasselbe Gefühl gibt auch in der »Fröhlichen Wissenschaft« (249) der Aphorismus wieder, der die Ueberschrift trägt: »Der Seufzer des Erkennenden«: »Oh über meine Habsucht! In dieser Seele wohnt keine Selbstlosigkeit, – vielmehr ein Alles begehrendes Selbst, welches durch viele Individuen wie durch seine Augen sehen und wie mit seinen Händen greifen möchte, – ein auch die ganze Vergangenheit noch zurückholendes Selbst, welches nichts verlieren will, was ihm überhaupt gehören könnte! Oh über diese Flamme-meiner Habsucht! Oh dass ich in hundert Wesen wiedergeboren würde!«
Auf diese Weise wird das Umfassende und Verschlungene der unharmonischen, der »stillosen« Natur zu einem gewaltigen Vorzug: »Wollten und wagten wir eine Architektur nach unserer Seelen-Art… so müsste das Labyrinth unser Vorbild sein!« (Morgenröthe 169.) – aber kein Labyrinth, in welchem die Seele sich selbst verliert, sondern aus dessen Wirrnis sie zur Erkenntniss hindurchdringt. »Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können«, – dieses Wort Zarathustras (I 15) gilt von ihr, die zum Sternendasein, zum Licht geboren ist als zu ihrem eigensten Wesensgenius, ihrer eigensten Verklärung. Nietzsche hat dies unter dem Namen: »Eine lichte Art von Schatten« geschildert (Der Wanderer und sein Schatten 258): »Dicht neben den ganz nächtigen Menschen befindet sich fast regelmässig, wie an sie angebunden, eine Lichtseele. Sie ist gleichsam der negative Schatten, den jene werfen.«
Diese Lichtseele ist um so strahlender, je mächtiger und nächtiger, also je tyrannischer und gefährlicher die Natur ist, welche sich gleichsam in ihr verbrennen lässt, – alle ihre Neigungen als Brennstoff in diese heilige Gluth wirft. Die Art, in welcher dies geschieht, wechselt mit dem Erkenntnissstandpunkt des Erkennenden: Nietzsches Auffassung dessen, was »Erkenntnisse ist, ist in seinen verschiedenen Geistesperioden eine verschiedene, und dementsprechend verschiebt sich auch jedesmal das, was er die »innere Rangordnung der Triebe« nennt, innerhalb des wogenden Kampfes in dieser reichen Genie-Natur. Man kann sagen, dass aus den wechselnden Bildern solcher Verschiebungen sich die Geschichte seiner Entwicklung im Wesentlichen zusammensetzt, bis in seiner letzten Schaffensperiode sein ganzes Innenleben sich in philosophischen Theorien widerspiegelt: bis ihm Dunkelseele und Lichtseele zu Repräsentanten des Menschlichen und Uebermenschlichen werden.
Der geschilderte Seelenprocess selbst aber bleibt durch alle Wandlungen hindurch in seinen Grundzügen der nämliche. »Hat man Charakter, so hat man auch sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt,« sagt Nietzsche (Jenseits von Gut und Böse 70). Nun, dieses ist sein typisches Erlebniss, das immer wiederkommt, an dem er sich immer wieder aufrichtete, über sich selbst erhob, – an dem er auch endlich sich in sich selbst überschlug und zu Grunde ging.
Und daran musste er wohl zu Grunde gehen. Denn in dem gleichen Process, der ihm stets von neuem Heilung und Erhebung sicherte, lag auch schon das pathologische Moment dieser Art von Geistesentwicklung verborgen. Auf den ersten Blick fällt es nicht auf. Man sollte vielmehr meinen, in einer Kraft, die sich selber so zu heilen weiss, müsse mindestens ebensoviel Gesundheit stecken wie in dem ruhigen Frieden einer harmonischen Kräfteentfaltung. Ja, sogar eine weit grössere Gesundheit: denn sie ist im Stande, selbst an dem, was Wunden schlägt und Fieber erzeugt, sich noch zu befestigen und zu beweisen; sie ist im Stande, Krankheit und Kampf zu einem Stimulans für Leben und Erkennen umzuwandeln, zu einem Sporn und Hellsehen für ihre Zwecke, – sie umfasst also schadlos Kampf und Krankheit. Auf solche Weise wollte Nietzsche, namentlich zuletzt, namentlich als er am krankhaftesten war, seine Leidensgeschichte aufgefasst wissen: alseine Genesungsgeschichte. Allerdings vermochte diese gewaltige Natur es, sich mitten aus Schmerzen und Widerstreit heraus in ihrem Erkenntnissideal selbst zu heilen und zusammenzufassen. Aber, nach erlangter Genesung, bedurfte sie wiederum ebenso nothwendig der Leiden und Kämpfe, der Fieber und Wunden. Sie, die sich selbst Heilung geschafft, ruft jene wieder, hervor; sie wendet sich gegen sich selbst, schäumt gleichsam über, um sich in neue Krankheitszustände zu ergiessen. Ueber jedem erreichten Erkenntnissziel, jedem erlangten Genesungsglück stehen immer wieder die Worte: »Wer sein Ideal erreicht, kommt eben damit über dasselbe hinaus«, denn: »sein Ueberglück ward ihm zum Ungemach« (Fröhliche Wissenschaft, Scherz, List und Rache 47), und er fühlt sich: »verwundet von seinem Glücke«10 (Also sprach Zarathustra II 2). »Sich Schmerzen machen. Rücksichtslosigkeit des Denkens ist oft das Zeichen einer unfriedlichen inneren Gesinnung, welche Betäubung begehrt.» Menschliches, Allzumenschliches I 581.
Die Gesundheit ist hier also nicht das Ueberlegene und Ueberragende, welches das Pathologische, als ein Nebensächliches, zu einem Werkzeug für sich umschafft, sondern beide bedingen sich, ja enthalten sich gegenseitig, – beide zusammen stellen thatsächlich eine eigenthümliche Selbstspaltung innerhalb ein und desselben Geisteslebens dar.
Eine solche innere Spaltung liegt nämlich dem ganzen geschilderten Seelenprocess zu Grunde. Anscheinend zwar sollte in ihm die Vielspältigkeit, die Subjects-Vielheit der unharmonisch veranlagten Natur, in einer hohem Einheit, in einem richtunggebenden Ziel aufgehoben werden. Nun vollzieht sich aber dieser Vorgang innerhalb der vielspältigen Seele in der Weise, dass ein einziger Trieb sich alle übrigen unterordnet; mit anderen Worten: die Vielspältigkeit wird auf eine um so tiefer gehende Zweispaltung reducirt. So wenig wie die Gesundheit hier überragend das Krankhafte mit umfasst, so wenig umfasst und überragt der herrschende Trieb wahrhaft das gesammte Innere, indem er es in den Dienst der Erkenntniss stellt: der Erkennende blickt wohl mit seinen Geistesaugen auf sich selbst wie auf eine zweite Wesenheit, aber er bleibt doch in der eigenen Wesenheit gefangen; er ist nur im Stande sie zu spalten, nicht über sie hinauszugreifen. Die Macht der Erkenntniss also, weit davon entfernt, eine einigende zu sein, ist vielmehr eine trennende, – aber die Tiefe der Trennung erweckt den Schein, als läge das Ziel aller Regungen ausser ihnen. In Folge dieser Selbsttäuschung drängen alle Kräfte begeistert der Erkenntniss zu, als vermöchten sie damit sich selbst und ihrem Zwiespalt zu entlaufen.