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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Schwach dagegen ist vorläufig noch die dramatische Kunst entwickelt. Hier ist kein Name eines Dramas mir als wirklich bemerkenswert genannt worden, und auch im öffentlichen und geselligen Leben spielt die theatralische Kunst kaum eine wesentliche Rolle. An sich ist diese Tatsache nicht verwunderlich, denn das Theater als typisches Produkt einer einheitlich organisierten Gesellschaft ist eine Kunstform, die ausschließlich innerhalb einer bestimmten Schicht der Gesellschaft in Erscheinung treten kann, und diese Form der Gesellschaft hat in Brasilien nicht Zeit gehabt, sich zu entwickeln. Brasilien hat kein elisabethanisches Zeitalter durchlebt, keinen Hof Ludwig XIV., keine breite bürgerliche theaterfanatische Masse gehabt wie Spanien oder Österreich. Alle theatralische Produktion beruhte bis tief in das Kaiserreich ausschließlich auf Import – und zwar infolge der Riesendistanz auf dem Import minderer Truppen und minderer Ware. Ein richtiges nationales Theater war selbst unter Dom Pedro nicht richtig versucht und gefördert worden; die ersten Truppen, die von Europa ins Land kamen, spielten sogar in spanischer und nicht in portugiesischer Sprache. Heute, da in den Millionenstädten schon ein aufnahmefähiges Publikum bestünde, ist es durch den alles überflutenden Einfluß des Kinos vielleicht schon zu spät, hier einen Anfang zu machen.
Ähnlich liegen die Verhältnisse in der Musik. Auch hier macht sich das Fehlen einer jahrhundertealten, tief in alle Schichten eingedrungenen Tradition fühlbar. Es fehlen die großen herangebildeten Chöre, so daß gerade die monumentalen Werke der Musik wie die Matthäuspassion, die großen Requiems, die neunte Symphonie von Beethoven, die Händelschen Oratorien dem großen Publikum soviel wie unbekannt sind. Die Oper in Rio de Janeiro und São Paulo baut ihr Repertoire noch wie vor fünfzig Jahren auf die italienische Oper Verdis und bestenfalls Puccinis auf. Ein Werk wie der »Tristan«, den Kaiser Dom Pedro vor fast hundert Jahren für Rio de Janeiro zur Uraufführung haben wollte, ist vielleicht zwei- oder dreimal seitdem gespielt worden und die wirklich neuzeitliche Musik soviel wie unbekannt. Erst jetzt hat man damit begonnen, symphonische Orchester aufzubauen, aber noch immer ist es die leichte, die gefällige Musik, die hier im Publikum vorwaltet.
Um so erstaunlicher deshalb, daß dieses Land schon zu einer Zeit, wo es wirklichen Heroismus und einen geradezu verzweifelten Lernwillen erforderte, sich heranzubilden, einen Musiker hervorgebracht hat, dem ein rauschender Welterfolg beschieden war, Carlos Gomes. In einem kleinen Städtchen im Staate von São Paulo 1836 geboren, tritt er schon mit zehn Jahren in eine Musikkapelle ein und bildet sich nun ohne jeden richtigen Lehrer in einem Lande, wo Partitur und wirkliche Opernvorstellungen kaum für ihn erreichbar sind, so willenskräftig aus, daß er bereits mit vierundzwanzig Jahren eine Oper, »A Noite do Castelo«, vorlegen kann. 1861 in Rio de Janeiro aufgeführt, wird sie ebenso wie seine nächste ein großer nationaler Erfolg. Nun nimmt sich der Kaiser Dom Pedro seiner an und sendet ihn zur weiteren Ausbildung nach Europa. In Italien fällt ihm der Roman seines Landsmanns, die »Guarani« von José de Alencar, in italienischer Übersetzung in die Hand, und sofort stürzt er damit zum Librettisten, dies sei das Werk, mit dem er als Brasilianer Brasilien vor der Welt darstellen wolle. 1870 wird die Oper in der Scala aufgeführt und ein sensationeller Erfolg. Der Altmeister Verdi erklärt, einen würdigen Nachfolger gefunden zu haben, und noch heute gelangen die »Guarani« – die beste Oper Meyerbeers, wie sie ein Musikhistoriker genannt hat – ab und zu auf italienischen Bühnen zur Aufführung. Ein typisches Musterexemplar jener großen Oper, die dem Auge, dem Ohr alles reichlich und überreichlich gibt, nur der Seele nicht genug, melodiös in ihrem lyrischen Teil, macht das Werk heute noch den Erfolg und die großen Hoffnungen, die man an den weiteren Aufstieg Carlos Gomes' knüpfte, verständlich, aber gerade weil sie so trefflich in diese romantische und pompöse Meyerbeer-Zeit paßten, sind die »Guarani« heute schon mehr ein musikhistorisches Dokument als lebendige Musik. Den typisch brasilianischen Beitrag zur Weltmusik hat bedeutend mehr als der italianisierende Carlos Gomes uns Villa Lobos gegeben. Ein starker, eigenwilliger Rhythmiker, der jedem seiner Werke eine bei anderen Komponisten nicht zu findende Farbe gibt, die in ihrer Grelle und dann wieder in ihrer geheimnisvollen Schwermut geheimnisvoll die Landschaft und die brasilianische Seele spiegeln.
Einen ähnlich typisch brasilianischen Ausdruck des Volkshaften erwartet man sich in der Malerei von Portinari, dem es als erstem brasilianischen Maler gelungen ist, sich eine internationale Stellung in wenigen Jahren zu erobern. Aber wieviel Farbe, wieviel Vielfalt, welche ungeheuren glücklichen Aufgaben erwarten in dieser großartigen Landschaft noch den Mann, der ähnlich wie Gauguin für die Südsee, Segantini für die Schweiz die grandiose Natur dieses Landes der Welt vertraut machen wollte. Welche Möglichkeiten eröffnen sich hier der Architektur in diesen mit fiebriger Geschwindigkeit wachsenden Städten, die immer stärker den Willen offenbaren, nicht mehr nach europäischem Schema und nicht auch nach dem nordamerikanischen, sondern in einer persönlichen Form zu gestalten! Viel wird in diesem Sinne hier versucht und einiges Wesentliche ist schon erreicht worden.
In der Wissenschaft – einer Materie, wo mir persönlich Überblick und Wertung durch mangelnde Fachkenntnis versagt ist – haben die letzten Jahre einen erstaunlichen Fortschritt in der historischen und ökonomischen Selbstdarstellung des Landes gebracht. Fast alle früheren Dokumente und Darstellungen Brasiliens waren von Ausländern geschrieben worden. Im sechzehnten Jahrhundert ist es der Franzose Thévet, der Deutsche Hans Staden, im siebzehnten der Holländer Berleus, im achtzehnten Jahrhundert der Italiener Antonil und im neunzehnten Jahrhundert der Engländer Southey, der Deutsche Humboldt, der Franzose Debret und der von Deutschen abstammende Varnhagen, denen man die eigentlich klassischen Darstellungen des Landes dankt. Aber in den letzten Jahrzehnten sind es die Brasilianer, die sich der Aufgabe angenommen haben, ihr Land und seine Geschichte auf Grund sorgfältigster Quellenstudien verständlich zu machen, und zusammen mit den sehr gründlichen Publikationen der Regierung und der einzelnen Staaten umfaßt diese Literatur schon allein eine ganze Bibliothek. In der Philosophie ist als merkwürdigstes Phänomen zu verzeichnen, daß der Positivismus Auguste Comtes hier eine Schule und sogar eine Kirche gegründet hat; ein gut Teil der brasilianischen Staatsverfassung ist von den Formeln und Anschauungen des französischen Philosophen durchsetzt, der hier ungleich mehr als in seinem Heimatland Einfluß auf das reale Leben genommen hat. Auf dem Gebiet der Technik wiederum hat vor allem der Aeronaut Santos Dumont unsterblichen Ruhm gewonnen durch seinen ersten Flug um den Eiffelturm und seine Konstruktionen von Aeroplanen, die in ihrer Kühnheit und Tatkraft den entscheidenden Anstoß zum Erfolg gaben. Ist der Prioritätsstreit heute auch noch immer im Gang, ob er es war oder die Brüder Wright, die zum erstenmal den Flug des Menschen in einem Flugzeug verwirklichten, das schwerer war als die Luft, so meint diese Frage eigentlich nur, ob Santos Dumont an zweifellos erster oder schlimmstenfalls bloß an zweiterster Stelle in dieser hervorragendsten undheroischsten Tat unserer neuen Welt steht, und dies ist genug, um seinen Namen für alle Zeiten in die Ehrentafel der Geschichte einzugraben. Sein Leben ist in sich selbst ein großartiges episches Gedicht des Wagemuts und der Selbstverleugnung, und unvergeßlich wie seine technische Tat werden die Taten seiner Menschlichkeit sein, jene beiden Briefe, die er verzweifelt an den Völkerbund richtete, damit dieser ein für allemal die Verwendung des Flugzeugs zu Bombenabwurf und anderen kriegerischen Grausamkeiten verbiete. Mit diesen beiden Briefen allein, welche die humanitäre Gesinnung seines Vaterlands vor der ganzen Welt proklamierten und verteidigten, hat sich seine Gestalt für alle Zeiten gegen jedes undankbare Vergessen geschützt.
Setzt man also in die Bilanz die richtigen Zahlen ein, so ist die kulturelle Leistung Brasiliens heute schon eine außerordentliche. Richtig aber rechnet man nur, sofern man das kulturelle Alter dieses Landes nicht mit vierhundertfünfzig Jahren und die Zahl seiner Bevölkerung mit fünfzig Millionen einstellt. Denn Brasilien zählt seit seiner Unabhängigkeit nicht viel mehr als hundert, genauer hundertneunzehn Jahre, und von seiner Bevölkerung nehmen heute noch kaum mehr als sieben oder acht Millionen an modernen Lebensbedingungen produktiv teil. Ebenso führt jeder Vergleich mit Europa ins Leere. Europa hat unermeßlich mehr Tradition und weniger Zukunft, Brasilien weniger Vergangenheit und mehr Zukunft, alles Geleistete ist hier ein Teil des noch zu Leistenden, vieles, was Europa der jahrhundertealte Grundstock als selbstverständlich gewährt, ist hier noch aufzubauen, die Museen, die Bibliotheken, der durchgreifende Bildungsapparat; noch hat es der junge Künstler, der junge Schriftsteller, der junge Gelehrte, der Student hier hundertmal schwerer als in den besser dotierten und besser organisierten Lehranstalten Nordamerikas, sich Überblick und universelle Kenntnisse anzueignen. Noch spürt man hier manchmal eine gewisse Enge und anderseits Ferne von den aktuellen Bemühungenunserer Zeit, noch ist das Land nicht seiner eigenen Proportion entsprechend entwickelt, noch wird jeder Brasilianer ein Jahr Europa oder Nordamerika als die richtige letzte Stufe seiner Studien empfinden, noch hat Brasilien trotz allen und allen unseren Torheiten von unserer alten Welt Auftrieb und Antrieb zu empfangen.
Aber anderseits hat auch der Europäer, der zu kürzerem oder längerem Besuch landet, schon viel hier zu lernen. Er begegnet einem anderen Raumgefühl, einem anderen Zeitgefühl. Der Spannungsgrad der Atmosphäre ist ein geringerer, die Menschen freundlicher, die Kontraste weniger vehement, die Natur näher, die Zeit nicht so überfüllt, die Energien nicht so bis zum letzten und äußersten gespannt. Man lebt hier friedlicher, also menschlicher, nicht so maschinell, nicht so standardisiert wie in Amerika, nicht so politisch überreizt und vergiftet wie in Europa. Dadurch, daß Raum ist um den Menschen, stößt nicht einer so ungeduldig mit dem Ellbogen gegen den andern, dadurch daß Zukunft ist in diesem Lande, ist die Atmosphäre unbesorgter und der einzelne weniger bekümmert und erregt. Es ist ein gutes Land für ältere Menschen, die schon viel von dieser Welt gesehen haben und nun in einer schönen, friedlichen Landschaft Stille und Zurückgezogenheit begehren, um all das Erlebte zu überdenken und auszuwerten. Und es ist ein wundervolles Land für junge Menschen, die ihre noch nicht ausgewerteten Energien in eine noch nicht ermüdete Welt bringen wollen, die noch restlos und freudig sich hier einpassen können und mitarbeiten an Entwicklung und Aufstieg. Von allen, die in den letzten Jahrzehnten aus Europa kamen, ist kaum einer zurückgekehrt; denselben Völkern, die heute sich jenseits des Ozeans sinnlos bekämpfen, ist hier eine gemeinsame Heimat des Friedens geworden. Und sollte – dies der glücklichste Trost in manchen Augenblicken unserer Verstörung – die Zivilisation unserer alten Welt sich wirklich in diesem selbstmörderischen Kampf vernichten, so wissen wir, daß hier eine neue am Werke ist, bereit, all das, was bei uns die edelsten geistigen Generationen vergeblich gewünscht und erträumt, noch einmal zur Wirklichkeit zu gestalten: eine humane und friedliche Kultur.
Kapitel Sechsundzwanzig
Rio de Janeiro
Vor fast vierhundert Jahren, 1552, schreibt Tomé de Sousa, da er in Rio landet: Tudo é graça que dela se pode dizer. Man kann es eigentlich nicht besser ausdrücken als dieser rauhe Kriegsmann. Die Schönheit dieser Stadt, dieser Landschaft läßt sich wirklich kaum wiedergeben. Sie versagt sich dem Wort, sie versagt sich der Fotografie, weil sie zu vielfältig, zu unübersichtlich, zu unerschöpflich ist; selbst ein Maler, der Rio in seiner Gänze darstellen wollte mit all seinen tausend Farben und Szenen, käme in einem einzigen Leben nicht zu Ende. Denn hier hat die Natur in einer einmaligen Laune von Verschwendung von den Elementen der landschaftlichen Schönheit alles in einen engen Raum zusammengerückt, was sie sonst sparsam auf ganze Länder verteilt und vereinzelt. Hier ist das Meer, aber Meer in allen seinen Formen und Farben, grün anschäumend am Strand von Copacabana von der unendlichen Ferne des Atlantischen Ozeans, bei Gávea wieder grimmig aufspringend an einzelnen Felsen und dann wieder in Niterói glatt und blau an den flachen Sandstrand sich schmiegend oder die Inseln zärtlich umschließend. Da sind Gebirge, aber jeder Gipfel und Hang anders geformt, schroff, grau und felsig der eine, umgrünt und weich der andere, spitz gestellt der Pão de Açúcar und wie von einem gigantischen Hammer flach geschlagen die Höhe von Gávea, hier zerrissen und zerzackt die Bergkette des Dedo de Deus, des Fingers Gottes. Jeder seine eigene Form eigenwillig bewahrend und doch alle in brüderlichem Kreise sich verbindend. Da sind Seen wie die Lagoa Rodrigo de Freitas und der von Tijuca, die die Berge, die Landschaft und gleichzeitig die elektrischen Linien der Stadt spiegeln, da sind Wasserfälle, kühl und schäumend aus den Felsen fallend, da sind Bäche und Flüsse, Wasser in allen seinen unfaßbaren Formen. Da ist Grün in allen Farben, Urwald bis knapp heran an die Stadt mit wuchernden Lianen und undurchdringlichem Dickicht, da sind Parks und gepflegte Gärten, die jeden Baum, jede Frucht, jeden Strauch der Tropen in scheinbarem Durcheinander und doch weiser Ordnung vereinen. Überall ist die Natur eine überschwengliche und doch harmonische, und inmitten der Natur die Stadt selbst, ein steinerner Wald, mit ihren Wolkenkratzern und kleinen Palästen, mit ihren Avenuen und Plätzen und farbig orientalischen Gäßchen, mit ihren Negerhütten und gigantischen Ministerien, mit ihren Badestränden und Kasinos – ein Alles-Zugleich, eine Luxusstadt, eine Hafenstadt, eine Geschäftsstadt, eine Fremdenstadt, eine Industriestadt, eine Beamtenstadt. Und über dem allen ein seliger Himmel, tiefblau des Tags wie ein riesiges Zelt und nachts besät mit südlichen Sternen; wo immer der Blick in Rio hinwandert, ist er von neuem beglückt.
Es gibt – wer sie einmal gesehen, wird mir nicht widersprechen – keine schönere Stadt auf Erden, und es gibt kaum eine unergründlichere, eine unübersichtlichere. Man wird nicht fertig mit ihr. Schon das Meer hat in einem sonderbaren Zickzack die Strandlinien gezogen und das Gebirge ihr in den Raum der Entfaltung steile Hänge geworfen. Überall trifft man auf Ecken und Kurven, alle Straßen schneiden sich in unregelmäßigen Formen, unablässig verliert man die Richtung. Wo man zu Ende zu sein glaubt, stößt man auf einen neuen Anfang, wo man eine Bucht verlassen, um in den Kern der Stadt zu dringen, gelangt man überrascht an eine andere Bucht. Auf jedem Weg entdeckt man etwas Neues, einen überraschenden Durchblick von den Hügeln, einen kleinen, wie aus der Kolonialzeit vergessenen Platz, einen Markt, einen palmenbestandenen Kanal, einen Garten, eine favela. Wo man hundertmal vorbeigegangen, findet man, wenn man aus Versehen eine Nebengasse nimmt, sich in einer anderen Welt: es ist, als ob man auf einer Drehscheibe stünde, die einen ununterbrochen zu anderen Ausblicken bringt. Dazu kommt noch, daß sich die Stadt mit einer radikalen Geschwindigkeit von Jahr zu Jahr, ja von Monat zu Monat verändert. Jemand, der ihr einige Jahre ferngeblieben, braucht geraume Zeit, um sich wieder zurechtzufinden. Man will einen Hügel hinauf, wieder einmal die alten romantischen Quartiere mitten in der Stadt zu sehen, und findet ihn nicht: er ist einfach abgeräumt, und ein mächtiger Boulevard, rechts und links von zwölf Stock hohen Häusern flankiert, durchquert die alte Stelle. Wo ein Felsen den Weg sperrte, ist jetzt ein Tunnel, wo das Meer zutraulich bis an den Strand kam, ein Flugplatz weit ins Meer gebaut, wo man vor drei Monaten noch an einer abgelegenen Küste im leeren weichen Sand hinstapfte, steht eine ganze Villenkolonie; all das geht hier mit traumhafter Geschwindigkeit. Überall geschieht etwas, überall ist Farbe, Licht und Bewegung, nichts wiederholt sich, nichts paßt zusammen, und doch paßt alles zusammen. Spazierenschlendern – in anderen Großstädten unergiebig und kaum mehr möglich – ist hier noch eine Lust und eine tägliche Entdeckungsfreude. Wo immer man sich befindet, überall wird dem Blick eine Wohltat getan. Man geht zu einem Freunde und schaut im Gespräch vom sechsten Stock zufällig aus dem Fenster: breit und majestätisch, wie man sie nie gesehen, breitet sich die Bucht mit ihren schimmernden Inseln und gleitenden Dampfern vor einem aus. Man tritt in derselben Wohnung in ein rückwärtiges Zimmer, und fort ist das Meer, aber entgegen glüht einem das Kreuz des Corcovado und die dunklen Gestalten der Sterne. Stundenweit glänzen die Lichter der Straße, und zugleich sieht man, wenn man sich vom Balkon vorbeugt, unten in ein Negerdorf mit kleinen Hütten und farbigen Lichtern hinein. Man will zur Stadt fahren, und der Weg geht quer über einen Berg; jeden Augenblick bittet man den Freund, der den Wagen chauffiert, anzuhalten, um einen andern überraschenden Ausblick nicht zu versäumen. Man will in ein Vorstadtviertel, um sich dort an den bunten kleinen Läden zu erfreuen, und findet sich plötzlich zwischen großen feudalen Palacetes mit hundertjährigen Gärten. Man fährt bei Santa Teresa mit der Tram den Berg hinauf, um ganz in der einsamen Natur zu sein, und ist plötzlich auf einem Aquädukt aus dem achtzehnten Jahrhundert und ein paar Minuten später inmitten einer Gruppe steiler Mietshäuser. In einer Viertelstunde kann man vom funkelnden Ufer des Meers auf einer Bergspitze sein, in fünf Minuten aus einer Luxuswelt in der primitivsten Armut der Lehmhütten und wieder mitten im kosmopolitischen Getriebe von blitzenden Cafés und zwischen einem Malstrom von Automobilen – alles geht hier durcheinander, ineinander, kreuz und quer, arm und reich und neu und alt, Landschaft und Kultur, Hütten und Wolkenkratzer, Neger und Weiße, altväterische Lastkarren und Automobile, Strand und Fels und Grün und Asphalt. Und all das glänzt und glüht in denselben vollen und blendenden Farben, schön das eine und schön das andere, beides immer neu durchmischt und immer faszinierend. Nie wird man müde, nie hat man genug. Nie hat man das volle Profil der Stadt erfaßt, denn sie hat Dutzende, nein Hunderte. Sie ist immer anders von jeder Seite, von jeder Fläche, von jeder Perspektive, anders von innen, von außen, von oben, von unten, vom Berg, vom Meer, von der Straße, vom Flugzeug, von der Fähre, anders von jedem Haus und anders von jedem einzelnen Stockwerk und jedem Zimmer dieses Hauses. Wer von Rio kommt, dem scheinen in allen anderen Städten dann alle Farben ohne Leuchtkraft, die Menschen auf der Straße monoton, das Leben zu ordentlich, zu einheitlich. Alles nach dem ist Ernüchterung, Abschattung nach diesem Rausch von Farben und Formen, nach der göttlichen Vielfalt dieser Stadt.
Man kann leben in Rio, wie man will. Der Gedanke ist verführerischer als anderswo, hier reich zu sein, in einem dieser von Parks umschlossenen Traumhäuser auf den Hügeln von Tijuca zu wohnen, und es ist doch gleichzeitig leichter hier, arm zu sein, als in einer anderen Großstadt. Das Meer ist frei für das Bad, die Schönheit frei für jeden Blick, die kleinen Notwendigkeiten des Daseins billig, die Menschen freundlich und unerschöpflich die Vielfalt jener kleinen täglichen Überraschungen, die einen glücklich machen, ohne daß man wüßte warum. Etwas Weiches und Entspannendes liegt hier in der Luft, das einen weniger kämpferisch, vielleicht auch weniger energisch sein läßt. Immer ist man hier der Empfangende in Schauen und Genießen, und unbewußt kommt einem von dieser Landschaft eine geheimnisvolle Tröstung wie immer von dem Schönen und Einmaligen auf Erden zu. Nachts mit ihren Millionen Sternen und Lichtern, tags mit ihren hellen und grellen, ihren heißen und explodierenden Farben, in der Dämmerung mit ihrem leisen Nebel und Wolkenspiel, in ihrer duftenden Schwüle und in ihrem tropischen Wetterguß, immer ist diese Stadt zauberhaft. Je länger man sie kennt, um so mehr liebt man sie, und doch, je länger man sie kennt, um so weniger kann man sie beschreiben.
Kapitel Siebenundzwanzig
Einfahrt
Frühmorgens warten schon alle Passagiere ungeduldig an Bord, mit Ferngläsern und Kameras bewaffnet; keiner will, sooft er sie auch schon bewundernd gesehen, die berühmte Einfahrt in Rio de Janeiro versäumen. Aber noch glänzt das Meer blau und metallen wie seit Tagen und Tagen, beruhigende und zugleich ermüdende Monotonie. Und doch, man fühlt es, daß man sich dem Lande nähert, man atmet die nahe Erde, noch ehe man sie sieht, denn feucht und süß wird mit einem Mal die Luft, weicher fühlt man sie an Mund und Händen, ein dunkler Duft schwebt unmerklich her, gebraut in den Tiefen der riesigen Wälder aus Pflanzenatem und Feuchte der Kelche, jener unbeschreibbare, warme, schwüle und gärende Brodem der Tropen, der auf süße Art einen trunken und müde zugleich macht.
Jetzt endlich in der Ferne ein Umriß: eine Bergkette zeichnet sich unsicher-wolkenhaft in den leeren Himmel hinein, und in dem Maße als das Schiff näher stampft, festigen sich ihre Konturen: es ist die Bergkette, die mit ausgespannten Armen die Bucht von Guanabara beschirmt, eine der größten der Erde. Alle Schiffe aller Nationen fänden darin gleichzeitig Raum, so weit und schwunghaft wölbt sie sich mit ihren vielen einzelnen Baien und Vorgebirgen aus, und innerhalb dieser aufgebrochenen Riesenmuschel liegen wie Perlen verstreut eine Unzahl Inseln, jede anders in Form und Farbe. Manche tauchen nur grau und gleichtönig aus der amethystenen See; für Walfische könnte man sie aus der Ferne halten, so nackt und kahl ist ihr Rücken. Manche wieder sind länglich und steinig gerippt wie Krokodile, manche mit Häusern bestanden, manche als Festungen bewehrt, manche scheinen schwimmende Gärten mit Palmen und Gartengeländen, und während man neugierig ihre unvermutete Vielfalt der Formen mit dem Fernglas bewundert, treten nun gleichzeitig die Berge des Hintergrundes plastisch hervor, auch sie jeder anders und eigenwillig. Nackt steht der eine und der andere ins grüne Palmenkleid gehüllt, felsig dieser und der andere einen schimmernden Gürtel von Häusern und Gärten umgelegt; es ist, als hätte die Natur als verwegene Plastikerin alle irdischen Formen nebeneinanderzustellen versucht, und irdische Namen hat darum auch die Volksphantasie jeder einzelnen dieser bergigen Steingestalten gegeben: die Witwe, der Bucklige, der Hund, der Finger Gottes, der schlafende Riese, die beiden Brüder, und dem allersichtbarsten, dem Pão de Açúcar, den Namen Zuckerhut, der, knapp vor der Stadt aufsteigend, mit seiner steilen Plötzlichkeit vor dem Eingang steht wie die Freiheitsstatue in New York, als das uralte und unverrückbare Symbol dieser Stadt. Aber noch über allen diesen einzelnen Monolithen und Bergen erhebt sich der Häuptling dieses Riesengeschlechts, der Corcovado, und hält ein gewaltiges Kreuz, (das nachts elektrisch erglüht) über Rio de Janeiro segnend erhoben wie ein Priester die Monstranz über eine hingekniete Schar.
Jetzt endlich gewahrt man, nachdem man das Gewirr der Inseln durchfahren, die Stadt. Aber nicht auf einmal gewahrt man sie. Nicht wie etwa in Neapel, in Algier, in Marseille tut sich dies Häuserpanorama wie eine offene Arena mit steigenden Steinstufen einem einzigen Blick auf; Bild um Bild, Teil um Teil, Prospekt nach Prospekt blättert sich Rio de Janeiro auf wie ein Fächer, und gerade dies macht die Einfahrt so dramatisch, so unablässig überraschend. Denn jede der einzelnen besiedelten Buchten, deren Summe erst ihren Strand ergibt, ist durch Bergketten getrennt – es sind gleichsam die Rippen des Fächers, die hier jedes Bild vereinzeln und doch zusammenhalten. Endlich zeigt sich der geschwungene Strand, bezaubernder Anblick: eine weite Strandpromenade, von den Wogen ständig beschäumt, mit Häusern und Villen und Gärten, deutlich unterscheidet man schon das Luxushotel und ansteigend die Hügel empor die waldumrandeten Villen – aber Irrtum! Es ist nur der Strand von Copacabana gewesen, einer der schönsten der Welt, nur eine neue Vorstadt, nicht die eigentliche Stadt. Noch muß man den Pão de Açúcar, den Zuckerhut, umsteuern, der den Blick sperrt, dann erst sieht man die Stadt in der Bucht, dicht und weiß vorblickend zum Strand und wirr sich auflösend in die begrünten Höhen. Man sieht die neuangelegten Strandgärten und den Flugplatz, der eben dem Meer abgewonnen war: gleich wird man landen und seiner Ungeduld Genüge tun. Aber nein! Es war wiederum ein Irrtum und dies nur die Bucht von Botafogo und Flamengo, nochmals muß das Schiff weiter steuern, noch ein anderes Blatt dieses göttlichen, in allen Farben leuchtenden Fächers aufgeblättert werden, noch muß man vorbei an der Marineinsel und jener kleinen mit dem gotischen Palast, wo Kaiser Pedro zwei Tage vor seiner Absetzung ahnungslos den letzten Ball gegeben. Und jetzt erst grüßen die Turmhäuser, eine einzige vertikale Masse, jetzt erst zeigen sich die Docks, jetzt erst kann das Schiff anlegen und man ist in Südamerika, ist in Brasilien, ist in der schönsten Stadt der Welt!