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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2
Wir legen nun unter großem Hallo die Extrauniformen ab. Es ist ein ganz unvorschriftsmäßiges Geschrei. Aber der Meister, der im Hintergrunde steht und alles mit seinen eisgrauen Augen umfaßt, lächelt dazu. Er lächelt selten, und das Lächeln an diesem Tage hat viel bei mir entschieden. Nach dem Ausbruch des Brandes kam es dazu, daß man den Meister, dessen »Unregelmäßigkeiten« hier jeder kannte, aber keiner anzugreifen wagte, verdächtigte, er hätte gemeinsam mit dem Rendanten, der in die Geschäfte (Diskont und Prolongation, Börsenengagements und Verluste auf Kosten der Anstalt) verwickelt war und der die Untersuchung durch den Sekretär des Herzogs fürchten mußte, den Brand von Onderkuhle gelegt. Obwohl viel dafür sprach, glaube ich es nicht. Ich glaube nicht an die Schuld des Meisters. Erstens deshalb nicht, weil tatsächlich das ganze Hab und Gut, das schwer und gewissermaßen ehrlich erworbene Vermögen des Meisters in dem Brande unterging, doch vor allem nicht wegen dieses wohltuenden, leichten, väterlichen Lächelns, mit dem er die kreischende, jauchzende, sich schon im Hofe und auf den Treppen entkleidende Jugend begleitete.
Aber wozu jetzt schon von dem Brande sprechen? Noch stehen die Mauern des hohen, roten, schloßähnlichen Baues, noch flattern die grauen Vorhänge aus Zwilchleinwand vor den Fenstern. Die Pferde und Kühe und das andere Vieh, soweit es sich nicht auf der Weide befindet, leben heil und wohlbehalten in diesem Augenblicke noch in den gewohnten Ställen, und von dem ganzen Brand ist noch nichts da außer einer Vorahnung im Herzen des achtzehnjährigen Boëtius von Orlamünde. Jetzt trete ich mit den andern Jungen in das bedrückend schwüle, von gleißendem Glanz erfüllte Schlafzimmer der »Fünften«, blicke in die schnell geöffneten, riesigen Schränke, wo die Uniformen und die andern Habseligkeiten der Zöglinge sich in abgeteilten Fächern numeriert befinden. Dann erst stutze ich, seit langem bin ich ja aus diesem Raum verbannt, ich begreife mein Mißverständnis und gehe zurück in mein Kabinett. Titurel, beim Umkleiden halb entblößt, wirft mir einen sonderbar kalten Blick zu. Der Prinz Piggy legt nur den Kopf zur Seite, so daß sich richtige Speckfalten an seinem gelblichen, stämmigen Halse bilden. In meinem Zimmer erblicke ich die Feuerkatze, die noch tief schläft und sich in meinem Bett eine kleine Höhle gegraben hat. Eine Minute später eile ich zum Schwimmunterricht in die Halle, wo ich den verreisten Rittmeister vertreten soll.
Der Herzog hat sich inzwischen von dem Sekretär getrennt, der sich mit dem Rendanten an die Bücher und Kassarevision machen soll. Der Herzog selbst will mit der jüngsten Klasse zusammen sein, die jetzt ihre ersten Schwimmlektionen erhält. Die meisten können allerdings schon beim Eintritt ins Institut schwimmen, nur wenige, die Zartesten, können es nicht. Da ist ein blonder, sehr zierlicher Knabe, zehn Jahre alt, so alt wie ich, als ich hierherkam. Er ist ein wenig wasserscheu. Man merkt es gleich, wenn er aus der Kabine herauskommt. Das grünweißgestreifte Trikot ist ihm zu groß. Der Junge zittert. Vor Kälte kann er nicht zittern an diesem sausenden, überheißen Junitage. Aber er nimmt sich zusammen, streckt seine magere Kehle vor, blickt mutig mich, das Wasser und den Herzog an. Die seidigen aschblonden Haare hat ihm seine zärtliche Mutter daheim tief in die mädchenhafte, niedrige Stirn wachsen lassen, an deren unterer Grenze die ebenfalls aschblonden Augenbrauen wie mit einem millimeterbreiten Stift gezogen sind. Er spricht mit einem hellen, silbernen Stimmchen, halblaut wehrt er sich, ohne seinen Stolz aufzugeben, ohne seine Schwäche einzugestehen, gegen die gutmütigen oder auch boshaften Scherze seiner Kameraden, die sich darüber lustig machen, daß er an die »Angelrute« kommen soll, woran sie aber auch fast alle einmal gewesen sind, denn wie sollte man das Schwimmen sonst lernen?
Es gibt zwar auch Menschen, die man einfach ins Wasser wirft oder die sich selbst ins Wasser werfen (wie ich) und sofort schwimmen, schlecht zwar und unter großer Kraftvergeudung – aber doch. Sie sind selten. Ich sorge selbst dafür, daß die Riemen der Angelrute richtig umgeschnallt werden. Die Angelrute ist der in allen Schwimmanstalten gebräuchliche Apparat, der aus einer Stange besteht, die der Schwimmeister führt, und dem dazugehörigen Riemenzeug, das um den Schüler gelegt wird. Ich warte ab, bis sich die Aufregung des Jungen, den man bei uns Alma Venus oder einfach Alma genannt hat, etwas gelegt hat, bis sich seine feine Haut kühl anfühlt und sein Pulsschlag ruhig geht. Gerade diese Vorsorge scheint aber Alma zu bedrücken, denn seine mädchenhafte Stirn wird immer röter, seine niedlichen Lippen zucken, immer krankhafter reckt er seinen schmächtigen Körper, und unter den beiden Riemen an der Brust rieseln geradezu Ströme von Schweiß herab. Also: bloß schnell ins Wasser – und alles ist gut.
Da tritt der Fürst, der meinen Vater kennt, zu mir. Er reicht mir die Hand, die ich ehrerbietig nehme, er lehnt sich neben mich über das Messinggeländer des Schwimmbassins und gibt mir Grüße an meinen Vater auf. Er merkt aber, daß meine Aufmerksamkeit in dieser Minute geteilt ist. Er winkt mir freundlich mit seiner gelben, starken, männlichen, mit keinem Ringe, sondern nur mit einer breiten, dunkelbraun gewordenen Narbe geschmückten Hand. Ich wende mich meinem Alma wieder zu. Die wenigen Augenblicke Wartens haben aber die moralische Widerstandskraft des Jungen stark angegriffen. Er verkrampft jetzt seine schönen Lippen. Die Neckereien seiner Kameraden, welche sich durch die Anwesenheit eines Mitgliedes des königlichen Hauses nicht im mindesten bedrückt fühlen, lassen ihn abwechselnd erblassen und erröten, seine ersten Tränen rinnen, glücklicherweise nur von mir bemerkt, in das von den Zöglingen aufgerührte, in kleinen Wellen bewegte Wasser des Schwimmbassins. Unter anderen Umständen hätte ich die Schwimmlektion verschoben, bis wir, Alma und ich, allein gewesen wären.
Jetzt aber ist der Herzog aufmerksam geworden. Er ist entfernt mit Alma verwandt. Er lehnt sich nun in seinem leichten englischen Reiseanzug (Pfeffer und Salz) an das Geländer und raunt dem Jungen an der Angelrute zu: »Nur Mut, Baby! Hopp!« Gerade das macht das arme Baby ganz kopfscheu. Es weint nun ganz offensichtlich, während es die vorgeschriebenen Bewegungen rein mechanisch so ausführt, wie ich sie ihm beim Vorunterricht auf der Matratze beigebracht habe. Und nach ein paar schlechten, kraftlosen Schwimmbewegungen geschieht das Unglaubliche: Alma verliert die Fassung, beginnt nach der Mutter zu schreien und sich mit beiden Händchen um das eiserne Rohr zu klammern, das innen in Wasserhöhe um das ganze Bassin herumläuft. Ich nehme davon natürlich keine Notiz – merke nur, wie ich rot werde. Ich hätte selbst in der größten Gefahr nie an meine Mutter gedacht. Ich hätte sie nie gerufen. Nur meinen Vater. Nur ein Vater hat die Kraft, mir in meiner Angst vor dem T. helfend zur Seite zu stehen – aber wie weit entfernt ist er jetzt? Seit fünf Wochen habe ich keine Nachricht von ihm. Aber ich beherrsche mich – ich mahne auch die laut aufschreienden und boshaft johlenden Kameraden des mitleidswürdigen Alma zur Ruhe. Ich kommandiere weiter. Ich gehe Schritt für Schritt mit meiner Stange vorwärts und schleppe den hilflos mit den feinen, spitz zulaufenden Füßchen zappelnden Alma mit. Ich bin natürlich stärker als er. Er muß folgen. Er muß das eiserne Rohr loslassen. Es kann ihm nichts geschehen. Zwar ist das Becken hier so tief, daß ein Stück Blei versinken oder ein mit Willen ertrinkender Mensch untergehen könnte, aber der Knabe hat ja mich, der ihn vor dem Tode schützt.
Der Herzog hat dieses Beispiel von Wasserscheu sehr ungnädig bemerkt. Vergebens wollen ihn der Direktor und einer der Präfekten von der Stätte des Versagens eines Schülers unserer Anstalt fortziehen. Der Herzog bleibt aber gerade deshalb hier wie eingewurzelt und würdigt diese jedem Schwimmlehrer bekannte Szene einer Aufmerksamkeit, die sie sicher nicht verdient. »Geben Sie einmal her!« sagt er zu mir und nimmt mir die Schwimmstange aus der Hand. Er bringt durch brüskes Aufrichten des Instrumentes den Knaben dazu, sich im Wasser zu eben, richtig wie ein geangelter Fisch. Dann schiebt er, der Herzog, die Stange weiter hinaus, so daß der Knabe das Geländer nicht mehr erwischen kann. Dann läßt der Herzog die Stange tief niedergleiten, so daß das verbindende Seil schlaff wird und der Oberkörper Almas ganz im Wasser untertaucht. »Los!« ruft der Herzog halblaut. »Vorwärts! Hopp und schäme dich!«
Doch der Knabe hört nichts mehr. Hilflos schlägt der Unselige mit Armen und Beinen und mit dem niedlichen Köpfchen um sich. Die Haare, goldblond, im Wasser schimmernd wie Fischschuppen, fallen ihm ins Gesicht, fast in die Augen. Er prustet und ruft: »Hilfe, Mutter! Ich ertrinke!« Lautes Gelächter der Zöglinge. Ich schäme mich für ihn. Der Herzog wird dunkelrot. Nun wirft er dem Knaben die Stange zu, als sei er des Ganzen überdrüssig. Aber nun schaukelt sie in ihrer ganzen Länge im Bassin. Der Junge hängt nicht mehr an ihr. Er sinkt nun allen Ernstes im Wasser nieder. Niemand scheint es zu bemerken. Die Kameraden lachen nur und bespritzen sich und ihn johlend mit dem lauwarmen Wasser. Der Herzog hat sich abgewendet und unterhält sich mit den Professoren, zu denen sich Piggy gesellt.
Alma hat sich im Wasser infolge seiner krampfhaften und zugleich gefesselten Bewegungen gewendet, er liegt auf der Seite, gurgelnd ruft er um Hilfe.
Sein Zustand ist nicht ohne Gefahr, da er sich mit dem linken Unterschenkel in die Seile verwickelt hat. Mir bleibt nichts übrig, als mich mit einem Hechtsprung ins Wasser zu werfen und die Stange zu erfassen. Bei dem klatschenden Geräusch (tadellos ist der improvisierte Sprung nicht geworden) hat sich der Herzog erstaunt umgewendet. Nun lacht er aus vollem Munde. Ich schleppe Alma, der blau geworden ist, ans Land. Er zittert und scheint ohnmächtig zu sein. Ich empfinde jetzt starkes Mitleid. Das darf nicht sein. Es widerspricht der spartanischen, unnatürlichen Lebensauffassung Onderkuhles. So wird der arme kleine Kerl, das moralische Baby, wie ein Aussätziger behandelt. Er bekommt Zimmerarrest, darf nicht bei dem gemeinsamen Mittagessen dabeisein. Das ist die Strafe für seine Feigheit, für seine Angst vor dem T. Als Straflokal bestimmt man den Fechtboden. Ich helfe dem fassungslosen Jungen beim Ankleiden wie ein Vater seinem Sohn. Ich führe ihn hinauf in den nach rostigen Rapieren und Karbolsäure riechenden Fechtsaal. Ich möchte, selbst von Feigheit angekränkelt, mit dem fürchterlichen Traum der Brandnacht im Herzen, dem armen kleinen Feigling etwas Gutes tun, ihm vielleicht die Möglichkeit geben, im benachbarten Schlafraum seine Haft zu verbringen und den schwarzen Tag zu verschlafen. Gegen diese Regung von feiger Milde und unmännlicher Weichheit wehre ich mich und führe Alma, der leise, aber unverkennbar widerstrebt, zu der Bank an der Wand des Fechtzimmers und schließe ihn in dem überhitzten, unter dem Dache liegenden Raum pedantisch von außen ein. Wir andern setzen uns im Schatten der blauen Schulfahnen unten zu Tisch in der großen Kadettenmesse und speisen mit ausgelassener Fröhlichkeit und lärmend wie Spatzen zu Mittag. Dazu tragen guter Wein und Liköre, ungewohnte Genüsse, noch das übrige bei.
Nach dem sehr üppigen Diner begeben wir uns alle in den Park. Das Rauchen, sonst nur als heimliches, aber unvermeidliches Laster geduldet, wird am heutigen Festtage vom Obersten, dem Direktor, persönlich zugelassen, nur bittet er, mit den Zündhölzern vorsichtig umzugehen, denn die Hitze der letzten Tage, verbunden mit dem auch heute wehenden, die ganze Landschaft mit einem zischenden Geräusche erfüllenden Hitzewind, hat alles, von den Schindeln der Dächer angefangen bis zu dem früh von den Bäumen fallenden Laube, völlig ausgedörrt. Fällt ein glimmendes Streichholz zu Boden, so flammt innerhalb von drei Sekunden der wie Papier raschelnde und ganz trockene Grasboden auf, bis man das Feuerchen unter den Schuhsohlen zusammentritt.
Wir haben uns, als wären wir alle eine Familie, nämlich die königliche, um den Herzog geschart, lauschen seinen Berichten, die er in einer ganz sachlichen Form zum besten gibt, so etwa, daß er von seinen Jagden auf wilde Büffel, weiße Nashorne mit kalendarischer Genauigkeit berichtet, dagegen andere Jagdzüge, zum Beispiel die in dem englischen Sudan, einfach dahin zusammenfaßt, man könne dort alles schießen, angefangen vom Menschen bis zum Paradiesvogel. Ist eine Schule wie die unserige die richtige, ist der Unterricht in den Reiter-, Schwimmer-, Fechterkünsten der wahre, ist die Pflege männlicher Eigenschaften, Mut, Haltung und Form, Hintansetzung des eigenen Lebens bis zur Todesverachtung das richtige Ziel des Daseins, so muß ein Dasein, wie es der Herzog führt, bestehend aus Jagden, Reisen und lebensgefährlichen geographischen Entdeckungen, der höchste Inbegriff des Lebens sein. So empfinde ich es.
In der Nähe des Herzogs riecht es, vielleicht nicht für jedermann erkennbar, nach Juchten oder Nilpferdpeitsche; ein Geruch, halb scharf, halb süß, den ich mit besonderer Wollust einatme. Mir ist der Anblick des Herzogs eine Stütze, eine wichtige und unentbehrliche gerade an diesem Tage, ich gestehe es.
Für mich hat er, der Herzog, viel übrig. Er zeichnet mich zwar nur durch einen Blick aus oder durch eine winzige Wendung seines Körpers, ein schwaches Heben der Stimme, wenn er zu mir spricht. Mein Vater und er waren Kameraden hier. Aber wie sehr hat sich ihr Dasein seither geändert! Aber davon kein Gedenken jetzt. Hat er, mein Vater, es aller Welt verborgen, das fürstliche Elend der Seinen, dann kann auch ich schweigen. Vor der Weit ist mein Vater immer noch der große Mann. Er fehlt bei keinem der exklusiven Empfänge, die er im schwarzen Frack mitmacht, als einzige Auszeichnung einen österreichischen Orden tragend, vielleicht den höchsten, einen Komturstern, den außer ihm nur gekrönte Fürstlichkeiten verliehen bekommen. Aber ist unser Geschlecht der Orlamünde nicht ebenso alt, ebenso gut wie das der Habsburger? Ganz schmucklos und ohne Ehrenzeichen ist der Anzug des Herzogs. Dieser Mann gehört einer neueren Zeit. Dieser Mann liebt, ein andersgearteter Schüler unserer Schule, keinen Prunk, seine Uniform ist der englische Reiseanzug, Pfeffer und Salz. Sein Orden ist die breite Narbe an der rechten Hand. Wie wir alle, lebt auch er nur unter Männern, Kameraden seiner Reisen, Trägern seiner Flinte, Führern seiner Last- und Tragtiere, deren er auf seinen Expeditionen bedarf. Bei Hofe wird man ihn nicht oft sehen. Sein Hof ist die Königliche Geographische Gesellschaft, wo er unter Professoren wie unter seinesgleichen sitzt, genau hinhört, da sein Gehör geschwächt ist, und wo er eine Rauchglasbrille nicht verschmäht, deren er, dessen Augen durch die Tropensonne geschwächt sind, sich auch jetzt, im blitzenden Licht der Nachmittagssonne, bedient.
Alles tut mir an diesem endlosen, feurig goldenen, durchsichtigen Sommertag wohl. Ich klammere mich an den Mut, die Überlegenheit, den Gleichmut des Herzogs. Die letzte Nacht liegt weit hinter mir. Mit ihren Träumen von Brand ist sie fast völlig versunken. Das »im ganzen Wohlwollende« der Welt, ihre verhältnismäßige Sicherheit macht mich jetzt ruhig, besonders in der Nähe des Herzogs, und ich wünsche, in seiner von juchtenähnlichem Geruch und Zigarrenrauch erfüllten Nähe auf einem Liegestuhl ruhend wie er, mit dem Blick auf den Park und die Gebäude des Stiftes, ich wünsche Proben herab, mich in ihnen ruhig zu bewähren und mich selbst endlich ganz wiederzugewinnen.
Kapitel Zwanzig
Mein ganzes Dasein wäre geändert, könnte ich an der Seite eines solchen Mannes, wie es der Herzog ist, leben. Er ist stärker, klüger, fester als ich. Er scheint in meinen Augen lesen zu können, er betrachtet mich lange mit seinen blaßblauen, scharf blitzenden Augen, die eigentlich etwas hinter mir Befindliches zu betrachten scheinen, dabei aber doch durch Herz und Nieren gehen. Von meinen Anlagen zu sprechen ist mir nie möglich gewesen. Meine Wünsche habe ich stets nur mir selbst eingestanden. Meine Mutter habe ich hier nie vermißt. Mein Vater aber hat mir immer gefehlt und niemals mehr als in diesem Augenblick. »Vor dreißig Jahren bin ich hier mit deinem Vater zusammen gewesen. Es kann sein, daß ich ihm den Vorschlag gemacht hatte, mit mir die Expedition Römisch I mitzumachen. Er kannte damals bereits deine reizende Frau Mutter … « Er begründet nicht weiter, weshalb mein Vater das Angebot abgelehnt hat, er sagt nicht, daß er bedauert, daß mein Vater die Laufbahn eines »stellungslosen Fürsten« eingeschlagen habe. »Wir haben immer zuwenig Leute mit und zuviel. Verwendung wäre für einen absolut durchtrainierten Sportsmenschen, der Medizin, auch Tierkrankheiten, studiert hat, schießen und Tierbälge präparieren kann, Orientierungssinn und etwas wissenschaftliches Interesse besitzt und der leichten Herzens Europa auf einige Jahre verläßt. Übrigens sind auch Sprachkenntnisse unerläßlich. Englisch zum Tagesgebrauch. Die Sprachen der Eingeborenen muß man von heute auf morgen aufnehmen können und nicht so schnell vergessen. Dabei gibt es in Zentralafrika Gegenden, wo jedes Dorf seine eigene Sprache spricht. Diese Sprachen sterben aus, aber wie vieles kann gerettet werden! Früher kam ein Forscher mit einer Waggonladung Elfenbeinhauer und Löwenfelle und fünftausendsechshundert Pflanzenarten zurück, heute mit soundso viel aussterbenden Sprachen und Kulturen, Fetischen, primitiver Kunst, Sagen und Kulturgebräuchen. Ich sehe dich, Orlamünde, ich kann mir deine Art gut bei einer Expedition vorstellen. Außer dir könnte mir nur Prinz X., der, den ihr Piggy nennt, gefallen … «
In diesem Augenblick tritt der Sekretär zu dem Herzog, um ihn zu fragen, ob er nicht noch Aufträge habe. In der gleichen Sekunde hören wir, daß in jenem Teil der Anstalt, wo die Kanzleiräume untergebracht sind und von wo der Sekretär eben gekommen ist, eine Fensterscheibe geplatzt ist. Ich denke erst daran, einer der Zöglinge, etwa Piggy, dessen bellendes Lachen man unverkennbar vernimmt, hätte aus Übermut eine Fensterscheibe eingeschlagen. Aber da vernimmt man unruhiges Rufen. Plötzlich wird es totenstill, alles ist von uns fort. Alles schart sich um die Verwaltungskanzlei, aus deren zerbrochenem Fenster wir, der Herzog, der Sekretär und ich, schon von weitem mattblaue, durchsichtige, zigarettenrauchähnliche Schwaden hervordringen sehen. Der Meister, weiß wie die Wand des Verwaltungsgebäudes, stürzt an uns vorbei, ruft: »Es brennt« und eilt durch den Park zu den Wirtschaftsgebäuden, um die Spritzenhäuser zu öffnen, deren Schlüssel er besitzt. Wir nähern uns schnell der Brandstätte. Der Rauch ist dichter geworden, wie feines Seidenpapier hängt er vor der Eingangstür. Im Innern des Hauses summt es wie in einem Bienenhause.
Ratlos stehen die Leute, Zöglinge und Erwachsene durcheinander, vor dem Eingang. Immer dichter dringt der Rauch hervor, dem etwas besonders Scharfes, Schweres beigemischt ist. Man hört das Feuer zischen. Plötzlich kommt ein unterdrücktes Stöhnen (nicht zum erstenmal höre ich es, dieses Stöhnen, das dem Ziehen einer Säge in frischem Holze gleicht) aus dem brennenden Innern. Nicht einen Augenblick überlege ich. Ich drücke den Schirm meiner Kappe tiefer ins Gesicht, streife meine alten schwedischen Reithandschuhe über, gehe vor, ergreife die heiße Klinke und stürze mich in die Kanzlei.
Sofort übersehe ich alles. Ausgegangen ist der Brand von dem Motorrade, das in der Kanzlei des Rendanten nichts zu suchen hat und an dem das zwischen den Rädern an dem Gestänge anmontierte Benzinbehältnis eben geöffnet sein muß. Aber der Brennstoff hat noch keinen richtigen Abfluß, und deshalb brennt das Benzin so artig, es pflanzt sich erst puffend am Boden und an den Wänden fort, die von den Regalen bedeckt sind. Es müssen ungeheure Mengen von altem, etwas feuchtem Papier hier angesammelt sein. Unberührt steht in der Ecke, wie ein kleiner Turm aus Blei, niedrig und fest, eine schwere eiserne Kasse. Am furchtbarsten ist der dicke graublaue Rauch, welcher der verglimmenden Makulatur entströmt. In der Ecke neben dem Fenster rechts, die vom Feuer noch unberührt geblieben ist, lehnt oder hockt ein Mann; jetzt erst sehe ich ihn deutlich, er sitzt wie ein Schneider da, die spitzen Knie vorgestreckt, und atmet den Rauch ein, als käme dieser von der in der Mitte durchgebrochenen Zigarette, die er unentzündet zwischen seinen welken Lippen hält: der Rendant. Sein speckiges schwarzes Gewand glänzt in der Feuerflamme. Ich verstehe alles. Ich greife nach ihm, packe ihn beim Kragen, wie man ein Pferd am Halfter packt, und ziehe ihn aus der Ecke fort zur Tür. Er wehrt sich ängstlich, er hält die magere Kanzlistenhand schützend über den gelb glänzenden Scheitel, er klammert sich, als ich Gewalt anwende, an einen der bekannten hohen Sekretäre, die am Fußende schon zu glimmen beginnen. Jahre hat er an ihnen, schreibend und rechnend, zugebracht, hat mit ihnen gelebt und will nun mit ihnen sterben. Niemand anders als er kann den Brand gelegt haben. Er glotzt erst und schweigt, dann öffnet er den Mund wie eine gähnende Katze, Tränen springen ihm aus den kleinen schwarzen Augen, und er fällt zusammen. Er will nicht fort. Er windet sich am Boden, umfaßt meine Knie, ruft mich mit dem Namen seiner Kinder: Paul, Jeanne, Chéri. Schon saust das Feuer stärker. Lautlos hat es sich der Sekretäre und Regale bemächtigt. Die Brandstiftung des Rendanten ist eine Art Selbstmord. Lohnt es sich, eine solche Kreatur zu retten? Aber es muß sein. Die Luftreifen des Motorrades schmoren und entwickeln unerträgliche Dünste, dann platzen sie beide zugleich und werden zu gleißenden Kreisen. Jetzt leckt die Flamme am Benzinreservoir, während ich mich mit Gewalt des schwächlichen Verbrechers bemächtige. Mit einer Hand raffe ich seine aufgegangene Halsbinde in einen Knoten zusammen, mit der andern Hand stütze ich ihn im Kreuz, lasse ihn vor mir her trippeln. Noch an der Tür bückt er sich nach einem Zettel, dem Fragment einer Rechnung, die der Sekretär des Fürsten geprüft und unterschrieben hat. So von Sinnen (oder so klar?) ist der Brandstifter, daß er sich in einem solchen Augenblick nach einem Fetzen Papier, wertlos für alle und für ihn, bückt. Dabei ist es höchste Zeit, denn kaum sind wir zum Hause heraus, als mit dumpfem Knall die Fensterscheiben der ganzen Front platzen und mit einem Male das bis jetzt brummende Raunen der Flammen sich in ein eiliges, rhythmisches, metallisches Prasseln verwandelt. Nie habe ich gewußt, daß Feuer einen Laut hervorbringen kann, als spielte man mit stählernen Kastagnetten. Zum erstenmal sehe ich jetzt unter wallenden Schwaden leibhaftige Flammen aus dem Rechnungsraum hervorschlagen. Der heiße Wind über den Kronen der Bäume hat sich noch gesteigert, wie er es seit Wochen an jedem Abend tut. Soll die Natur eine Ausnahme machen, um das geliebte Onderkuhle zu retten? Überall herrscht unbeschreibliche Verwirrung. Das Vieh in den Ställen, das der Hitze wegen heute besonders früh von der Weide zurückgekommen ist, stößt in seiner Angst gegen die Raufen und Wände, es rasselt mit den Ketten, an denen es befestigt ist. Die Hühner flattern auf, ungeschickt und plump lassen sie sich nieder, während die Tauben hoch oben über ihren Schlägen kreisen, ihr Grau ist vom Feuerglanz oder von der allmählich sinkenden Sonne vergoldet. Wer unterscheidet das? Wer starrt gegen den Himmel, als könnte er von dort etwas herabgreifen, das alles ungeschehen macht? Ich glaube an Gottes Hilfe nicht. Ich glaube daran, daß man in die Ställe eilen muß, wo die Pferde stehen. Ich bringe in die gaffenden, vor Schrecken blöd grinsenden Reitknechte ein wenig Leben. Das Nötige ist schnell geordnet. Gänzlich unfähig sind unsere Führer. Der alte, sonst so mutige Abbé kniet auf den Stufen vor der Kapelle, den Rosenkranz schnell und gedankenlos bewegend, der Direktor und die Lehrer, umgeben von den Präfekten, »disponieren«, wollen das Feuer planmäßig isolieren und bekämpfen, aber sie sehen nicht, daß es unaufhaltsam von dem »isolierten« Kanzleigebäude aus weitergeht, und die seelische Ergriffenheit des trunksüchtigen Direktors, die sich in dicken Tränen ausdrückt, wirkt abstoßend und lächerlich. Der Meister fehlt sehr. Er hat das erste beste Pferd bestiegen und ist nach der Eisenbahnstation geritten, um von dort durch den Draht die Feuerwehr des nächsten Ortes zu alarmieren. Eine Telefonleitung hat unser konservatives Knabenstift nie erhalten. Man wollte sie nicht. Ruhig, beherrschend, im Vollbesitze seiner Geistesgegenwart ist der Herzog. Er hat die Zöglinge um sich zusammengezogen. Sie nehmen die altmodische Spritze vom Dienstpersonal in Empfang. Man rollt sie eiligst heran. Die Schläuche werden gelegt, an die Hydranten angeschlossen, bald beginnen sie zu arbeiten, und der erste feine Wasserstrahl richtet sich gegen das rote, vor Hitze glühende, aber vom Feuer noch unberührte Haus der Schule, in dem sich die großen Lehrsäle, die Kadettenmesse und die Wohnräume für die Vierte und Fünfte befinden. Der Direktor stört. Gefolgt von seinen Trabanten, läuft er händeringend umher. Er möchte die ihm anvertrauten Jungen am liebsten sofort aus dem Umkreis der brennenden Verwaltungsgebäude entfernen, was aber der Herzog nicht zugibt. Der Brand hat sich inzwischen schnell ausgebreitet. Ich komme und gehe in höchster Eile. Die Pferdeknechte werden der Tiere nicht Herr. Ich binde zuerst eine ältere Schimmelstute an einen Baum im Obstgarten. Jetzt nehme ich Cyrus vor. Er folgt ungern. Er wendet immer wieder seinen feinen mausgrauen Kopf zurück nach dem Stalle, aus dem die ersten Flammen lecken, er stampft mit seinen zierlichen, schwarz lackierten Hufen die heißen Pflastersteine, als wolle er bleiben. Aber schließlich fügt er sich. Die andern kommen nach, bald sind sie vollzählig. Sie wiehern viel, schlagen aus, drängen die Köpfe zusammen, stellen die Ohren auf. Aber sie weichen nicht voneinander. Der Meister ist eben zurückgekommen. Die Feuerwehr des nächsten Ortes ist benachrichtigt, sie muß sofort kommen. Inzwischen werden unsere Feuerleitern herbeigebracht. Wir alle bitten den Himmel, man möge sie nicht verwenden müssen. Sie sind nur kurz und würden kaum über das erste Geschoß reichen. Es hat sich nichts geändert. Die Sonne ist tief hinab. Aber jetzt, sonderbarerweise noch mitten im Brande, atmet alles auf, als sei das Schwerste vorbei, alles gerettet, der Schaden nicht zu groß. Die Menschen haben sich aus dem nächsten Umkreis der wie mit großen Flügeln rauschenden Flamme zurückgezogen.