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Mehr ausbrüten, weniger gackern
Die damaligen Ideen für die Gestaltung des Schulwesens entsprangen dem damaligen Denken und orientierten sich an den damaligen Bedürfnissen. Und man muss nicht hundertfünfzig Jahre alt sein, um festzustellen, dass sich einiges verändert hat in Gesellschaft und Wirtschaft. Radikal verändert sogar. Das müsste eigentlich Anlass genug sein, die Schule ähnlich radikal zu verändern. Und das hieße dann eben beispielsweise: von der Pädagogik zur Autagogik.
Zehn Merkmale der Volksschule des 19. Jahrhunderts
nach J.C. Hirzel, 1829(!)
1. Unterrichtsfächer
2. Lehrstoff und Lehrmittel
3. Jahrgangsklassen
4. Klassengröße
5. Stundenplan
6. Lehrerausbildung
7. Jahresbesoldung
8. Prüfungen
9. Lehrerwahl und -entlassung
10. Schulaufsicht
Megatrends
Der Blick aus dem Schulhausfenster zeigt: Aha, da passiert etwas in der »richtigen« Welt. Wenn die Schule nicht den Anschluss verpassen will, muss sie erst einmal lernen, mit Veränderungen umzugehen. Denn im Gegensatz zu anderen Bereichen der Gesellschaft hat sie in dieser Beziehung keine Tradition. Keine Übung. Klar standen immer irgendwelche »Reformen« ins Haus. Passiert ist zwar nicht wirklich etwas. Dafür hat sich eine veritable Aufregungskultur entwickelt. Kurzatmig, in hektischem Aktionismus wird reformiert, was das Zeug hält.
Ein neues Zeugnisformat, eine Wochenlektion mehr oder weniger, die Einführung von Blockzeiten, solche und ähnliche Dinge lösen Diskussionen aus, und alle laufen wie aufgescheuchte Hühner durchs Gehege, als ob es tatsächlich um etwas gehen würde. Von wegen: Das sind bei Lichte besehen doch Peanuts. Marginalien. Die Änderungen, die eigentlich anstehen würden, die sind viel grundsätzlicher. Und die gingen ans Eingemachte.
Im Wesentlichen sind vier Megatrends (Trend = Grundtendenz, Richtung, in die eine Entwicklung geht) zu erkennen. Sie fordern das Bildungswesen heute und in Zukunft heraus. Kosmetik reicht dabei nicht mehr. Herkömmliche Strukturen, Konventionen und Rollenbilder müssen viel radikaler in Frage gestellt werden.
Großes Gegacker mit Riesenwirbel, wenn eine Reform die Bühne betritt. Keine Idee, wie die Reform umgesetzt werden könnte, sondern nur, warum sie nicht funktioniert. Meist legt sich die Aufregung dann bald wieder und alles ist wie vorher.
a u f g e p i c k t
Wenn eine Gesellschaft ihre jungen Menschen nicht braucht und sie dies ausdrücklich wissen lässt, indem sie sie in Schulen, an Orten, von denen nichts ausgeht, kaserniert und mit sich selbst beschäftigt, sie von allen Aufgaben ausschließt, dann zieht sie ihre eigenen Zerstörer groß. Hartmut von Hentig
❶ Geschlossene Marschkolonnen auflösen
Die Sozialisierungshintergründe von Kindern und Jugendlichen weichen zunehmend voneinander ab. Es beschränkt sich nicht auf die offenkundigen kulturellen und ethnischen Unterschiede. Die Lebensgewohnheiten haben sich insgesamt grundlegend verändert. Andere Menschen waren zwar schon immer eines: anders. Aber heute sind sie noch deutlich »anderser«. Das Stichwort »Heterogenität« prägt denn auch allerorts die schulischen Diskussionen – meist in Kombination mit dem Wort »Problem«. Und in der Tat: Die Schule ist herausgefordert, mit dieser Diversität gescheit umzugehen. Das heißt beispielsweise: Es geht nicht einfach darum zu akzeptieren, dass Lernende unterschiedliche Voraussetzungen mitbringen, unterschiedliche Vorstellungen, unterschiedliche Ziele. Es geht auch darum, diese Unterschiede als Chance und Ressource zu nutzen. Und wenn man nur ein bisschen ernst nimmt, was man heute so weiß über unterschiedliche Lernvoraussetzungen, dann müsste das erhebliche Konsequenzen haben. Ein einigermaßen gesunder Menschenverstand reicht um zu erkennen, dass die geschlossenen Marschkolonnen in den tradierten Strukturen immer weniger tauglich sind, mit der zunehmenden Vielfalt konstruktiv und Sinn stiftend umzugehen.
❷ Mehr Sprachigkeit
Konstruktiv mit Vielfalt umgehen, das heißt in erster Linie mit einer Vielfalt von Menschen. Es heißt aber ebenso: mit einer Vielfalt von Dingen, mit einer allgemeinen und fast uneingeschränkten Verfügbarkeit. Das heißt: Immer mehr geht es auch darum, Mengen zu bewältigen. Dazu gehört unter anderem auch die Menge an Informationen.
Die Schleusen der globalen Informationskanäle stehen sperrangelweit offen. Pausenlos dringen Datenfluten in die hintersten Winkel der Welt. Sich darin zurechtzufinden ist ähnlich einfach, wie aus einem voll geöffneten Feuerwehrschlauch Wasser zu trinken. Die Schule muss Lernende deshalb befähigen, dieses permanente Wildwasser der Information für sich zu bändigen. Viele Grenzen lösen sich auf. Nicht nur die politischen. Auch die Grenzen der Sprachen verschwinden im Staub der Völkerwanderungen. Was heißt beispielsweise heute »Muttersprache« in einer durchschnittlichen Schulklasse in einem durchschnittlichen Dorf? Deutsch? Das war einmal. Mehrsprachigkeit ist nicht einfach Thema bildungspolitischer Sonntagsreden, es ist eine schulpraktische Realität. Die Menge an Sprache und die Menge an Sprachen, damit gescheit umgehen zu können, das will gelernt sein.
Mehrsprachigkeit verlangt sozusagen nach mehr Sprachigkeit. Verbalisierungs- und Visualisierungsfähigkeit sind Motor und Treibstoff zugleich, um das Boot des eigenen Denkens geschickt durch die Hochwassergebiete der Informationen zu manövrieren und sichere Ankerstellen zu finden.
»Ich wanderte im Land umher und suchte Antworten auf Dinge, die ich nicht verstand Warum sich Muscheln auf den Berggipfeln finden, zusammen mit Abdrücken von Korallen und Pflanzen und Meeresalgen, die für gewöhnlich im Meer vorkommen. Warum der Donner eine längere Zeit dauert als das, was ihn verursacht, und warum der Blitz dem Auge unmittelbar nach dem Zeitpunkt seiner Erzeugung sichtbar wird, während der Donner hundertmal länger für seinen Weg braucht. Wie die verschiedenen Kreise im Wasser sich um die Stelle formen, die von einem Stein getroffen wurde, und warum sich ein Vogel in der Luft hält. Diese Fragen und andere merkwürdige Phänomene haben mein Denken während meines ganzen Lebens beschäftigt.«
Leonardo da Vinci
❸ Mehr Tugend für die Jugend
Der Schlüssel zum Erfolg steckt innen. Mit Erfolg ist gemeint: Anschlussfähigkeit. Und das ist weit mehr als das Wissen, dass die Rigi aus Nagelfluh besteht. Anschlussfähigkeit, das sind vor allem soziale und personale Kompetenzen. Es ist der Umgang mit sich und mit anderen. Es sind Werthaltungen und Tugenden. Anstand zum Beispiel. Wenn ein Kind vor noch nicht allzu langer Zeit etwas haben wollte, hieß das Schlüsselwort »bitte«. Heute heißt es »subito«.
Früher wuchsen Kinder meist mit mehreren erwachsenen Personen zusammen auf. Und sie hatten Geschwister. In diesem Geflecht von Auseinandersetzung und Rücksichtnahme wurden sie erzogen. Der Mehrpersonenhaushalt ist im Verlaufe der Jahre drastisch zusammengeschrumpft. Das sich daraus entwickelnde Leben in ungeteilter Aufmerksamkeit birgt die Gefahr, dass ganze elementare Tugenden verkümmern, Tugenden wie warten, zuhören, sich nützlich machen, bitte sagen und danke.
Auch wenn solchen Dingen der Geruch der Mottenkiste anhaftet: Die Schule – will sie zur Anschlussfähigkeit beitragen – muss sich ganz zentral um die Sozialisierung der Kinder kümmern. Oder ein bisschen direkter: um die Erziehung. Sie muss ein Ort sein, wo Kinder lernen, mit sich und mit anderen konstruktiv umzugehen.
Und sie muss ein Ort sein, wo Leistung einen Wert hat. Leistung verlangt auch immer wieder, sich selber zu überwinden. Und das Ergebnis: Stolz. Lernende sollen deshalb möglichst häufig die Erfahrung machen, dass es ein cooles Gefühl ist, sich überwunden und eine Leistung erbracht zu haben. Denn das Leben belohnt die Anstrengung, nicht die Ausreden.
❹ Erfahrungen aus erster Hand
Der Körper ist der Übersetzer der Seele ins Sichtbare, hat Christian Morgenstern einst formuliert. Daraus folgt: Körperliche Aktivitäten wirken sich positiv auf das Lern- und Leistungsverhalten aus. Lernende brauchen also Bewegung. Täglich. Und viel. Doch viele Kinder sind (auch) in dieser Beziehung arm dran. Die Medienorientierung und die damit einhergehende Passivität ist ein erschreckender Aspekt davon. Bereits zehn Prozent der Vier- bis Fünfjährigen haben in ihrem Zimmer einen eigenen Fernseher. Die Jugendlichen sitzen täglich mehrere Stunden in Konsumhaltung vor dem Bildschirm. Das hat Auswirkungen. Für Hirnforscher Manfred Spitzer jedenfalls ist klar: »Fernsehen macht dick, dumm und gewalttätig.« (Spitzer 2005)
Klar ist: Wer vor dem Bildschirm sitzt (oder liegt oder etwas dazwischen), bewegt sich nicht. Bewegungsarmut, eine zunehmende Beziehungslosigkeit zum eigenen Körper und damit eine Generation »Kartoffelsack« ist ein Ergebnis davon.
Kinder erleben die Welt häufig nur noch aus dritter Hand. Schulen müssen deshalb zu Orten der Aktivierung werden. Des Tuns. Des Herstellens. Des Handelns. Dabei geht es nicht um die Frage einer zusätzlichen Turnstunde. Vielmehr geht es darum, sich als handelndes Wesen überhaupt wahrnehmen zu lernen und Aktivität und Bewegung als integrale Bestandteile des täglichen Schullebens Zeit und Raum zu geben. Viele zwingende Arrangements, den Hintern zu heben, sind verschwunden. Und was nicht natürlicherweise geschieht, muss inszeniert werden. Etwas aktiv tun – körperlich zumal – ist eine Quelle der Erkenntnis, dass es zum Wohlbefinden beiträgt, den inneren Schweinehund an die kurze Leine zu nehmen. Nietzsche passt deshalb auch hier: »Wer sich selber nicht mag, ist fortwährend bereit, sich dafür zu rächen.« An sich, an anderen und an den Dingen.
Reality-TV
Geist oder Glotze
In den Jahren 2004 und 2005 untersuchten Forscher die geistige Entwicklung von knapp 1900 Vorschulkindern. Grundlage der Untersuchung war ein Test, bei dem die Kinder aufgefordert wurden, einen Menschen zu zeichnen. Je differenzierter und realistischer die Abbildung war, desto höher wurde die Leistung des Kindes eingestuft.
Die Abbildungen zeigen typische Zeichnungen von Kindern …
… die täglich bis zu einer Stunde fernsehen
… die täglich mindestens drei Stunden fernsehen
2Lernen beruht auf einer mittel- und längerfristigen Umstrukturierung von Netzwerken in unterschiedlichen Zentren des Gehirns. Dabei wird die synaptische Übertragungsstärke physiologisch und anatomisch verändert. Diese Veränderungen werden durch das limbische System und damit durch Aufmerksamkeit, Motivation und Emotion gesteuert. Wissen kann deshalb nicht übertragen werden; es wird im Gehirn eines jeden Lernenden neu geschaffen (Roth 2003).3Dopamin ist ein endogenes Opiat. Es wirkt selbstbelohnend und positiv stimulierend.4Selbstwirksamkeit (self-efficacy) umschreibt die subjektive Gewissheit, neue oder schwierige Aufgaben auf Grund eigener Kompetenzen bewältigen zu können. Sie beeinflusst dabei allgemein das Denken, Fühlen und Handeln sowie – in motivationaler Hinsicht – Zielsetzung, Anstrengung und Ausdauer eines Menschen. Eine Erhöhung der Selbstwirksamkeit korrespondiert mit größerer Leistungsfreude und besserer Gesundheit. (Bandura 1997)
Orientierung
Wer nicht weiß, wohin er will, muss sich nicht wundern, wenn er ganz woanders ankommt.
LRF 1:
Orientierung bieten
Angenommen, jemand fährt in dunkler Nacht auf Nebenwegen nach Paris. Plötzlich taucht im Scheinwerferlicht ein Ortsschild auf. Der Fahrer kennt den Ort nicht. Aber er nimmt die Karte hervor. Und er sieht: Ah, da liegt diese Ortschaft. Und er kann erkennen, wie weit es noch geht bis Paris. Und wo die Autobahn verläuft. Anders gesagt: Er kann sich orientieren. Das gibt Sicherheit.
Orientierungslosigkeit dagegen schafft Unsicherheit. Unsicherheit macht Angst und führt zu Abhängigkeiten. Das gilt auch und gerade fürs Lernen. Denn lernen soll ja von der Abhängigkeit in die Unabhängigkeit führen. Das beginnt beim Kleinkind. Und es sollte in der Schule weitergehen. Das heißt: Die Schule muss den Lernenden Orientierung bieten auf ihrem Weg in die Unabhängigkeit.
a u f g e p i c k tWer in die falsche Richtung geht, dem hilft auch Rennen nichts.
In tradierten schulischen Settings dreht sich die Orientierung um die Lehrperson. Sie ist die Orientierung. Sie sagt, wann was zu geschehen hat. Sie sagt, was gut ist und was nicht. Die zentrale Frage, die Lernende sich stellen müssen, ist einfach: Was will er oder sie da vorne unter der Wandtafel? Die entsprechenden Anpassungsleistungen werden honoriert. Unter anderem durch gute Noten.
Folgende Szene: Ein Lernender erklärt, er hätte eine Fünf5 haben sollen. Er habe jetzt aber nur eine Vier geschafft. Deshalb reiche es ihm nicht für den Übertritt. Wird dieser Lernende gefragt, was er denn mehr gewusst oder gekonnt hätte mit einer Fünf, wird er die Antwort wohl schuldig bleiben. In der Schule (und in den Diskussionen um Schulleistungen in der Familie) geht es selten um Inhalte. Es geht fast ausschließlich um Stellvertreter von Inhalten – in Form von Zensuren.
Für alle Fächer legt ein Lehrplan die Themen fest. Bestimmt wird aber das, was in der Schule »durchgenommen« wird, von den Lehrmitteln – Kapitel um Kapitel, Seite um Seite. Sie sind, zusammen mit den Vorlieben der Lehrpersonen, der heimliche Lehrplan. Verstärkt ist jetzt noch das Teaching-to-the-test im Hinblick auf die Standards aller möglichen Vergleichsarbeiten und Testverfahren dazugekommen. Lernende haben sich an externe Drehbücher zu halten. Sie haben nachzusingen, was andere vorgesungen haben – Karaoke-Lernen.
Wer hat, dem wird gegeben
Die Orientierung an Inhalten erleichtert den Wissensaufbau. Denn: »Wissen ist der entscheidende Schlüssel zum Können« (Stern 2007). Damit ist nicht eine Ansammlung lebloser Fakten gemeint. »Mit derartigem Wissen kann man mit etwas Glück einige Runden im Fernsehquiz überstehen. Ansonsten ist isoliertes Faktenwissen unbrauchbar. Zweifellos sieht ein Großteil des in der Schule erworbenen Wissens genau so aus: einige korrekte Fetzen aus einem wüsten Haufen Müll. (…) Es gibt intelligentes und weniger intelligentes Wissen. Die Redewendung ›Wissen vermitteln‹ ist, wenn es um intelligentes Wissen geht, unangemessen. Intelligentes Wissen kann nicht über eine Art Fotokopierprozess vom Kopf des Lehrers in den Kopf des Schülers übertragen werden. Es muss vom Lernenden konstruiert werden, indem er mit der neu eingegangenen Information an sein bereits bestehendes Wissen anknüpft. Je mehr Wissen er hat und je besser dieses strukturiert ist, umso leichter kann er neu eingehende Informationen aufnehmen« (Stern 2007). Oder wie heißt es in der Bibel: Wer hat, dem wird gegeben.
Lernen ist also ein individueller Konstruktionsprozess. Lernende lernen selbst. Es geschieht einfach. Wer aber sein Lernen zielführend gestalten will, muss sich orientieren können. Und zwar an Inhalten! Lernende müssen wissen, was man können könnte. Sie müssen wissen, wo sie stehen. Sie müssen Ziele sehen. Und das alles auf der Basis von klaren und transparenten Inhaltsbeschreibungen.
Denn kompetenzorientiertes und selbstwirksames Lernen braucht Orientierung in Form von Referenzwerten.
Selbstwirksamkeit kann auch umschrieben werden als Gegenteil des Gefühls, ausgeliefert zu sein. Dieses Gefühl der Abhängigkeit kann leicht entstehen in einem System, in dem Lehrpersonen, unterstützt durch Lehrmittel, den Stoff und die Dosierung weitgehend bestimmen.
Selbstwirksames Lernen verlangt indes nach anderen Arrangements. Lernende müssen ihr Lernen selbst in die Hand nehmen können. Ein methodischer Ansatz dabei: Referenzieren.
Worum geht es? Vereinfacht ausgedrückt geht es darum, individuelle Leistungen mit einem Referenzwert in Beziehung zu bringen. Diesen Referenzwert und damit die inhaltliche Basis bilden so genannte Kompetenzraster.
»Unbestritten ist«, stellt Anton Strittmatter klar, »dass aus dem heutigen Nebel der überladenen Lehrpläne und diffusen sowie widersprüchlichen Ansprüche an Schule und Unterricht herausgefunden werden muss, dass der Bildungsauftrag stärker fokussiert werden muss, und dies in Form von Kompetenzbeschreibungen (in der Art des Europäischen Sprachenportfolios) und zugeordneten Standards des Erreichens durch die Lernenden der verschiedenen Bildungsstufen. Dieser Ansatz macht jedoch nur dann Sinn, wenn die Standards eben auch Standards des Erreichens sein dürfen, was eine Politik des ›Mastery Learning‹ voraussetzt« (Strittmatter 2006).
Beispiel Kompetenzraster
Solche Referenzwerte sind anschaulich beschrieben in Kompetenzrastern. Kompetenzraster definieren die Kriterien (was?) und die Qualifikationsstufen (wie gut?) in präzisen »Ichkann«-Formulierungen. Das heißt: Ein Fachgebiet (zum Beispiel Englisch) wird aufgegliedert in relevante Kompetenzkriterien. Das Europäische Sprachenportfolio liefert ein Muster dazu. Was für Englisch und für das Europäische Sprachenportfolio gilt, gilt für andere Fächer und Fachgebiete in gleicher Weise. Es geht letztlich darum, ein Curriculum in eine Matrixform zu bringen. Und in die einzelnen Felder dieser Matrix wird in ansteigendem Anspruchsniveau das beschrieben, was man können könnte. Seit PISA ruft alle Welt nach klaren und transparenten Standards. Voilà!
Zu diesen Referenzwerten bringen die Lernenden ihre Leistungen in Beziehung und setzen farbige Punkte in die entsprechenden Felder der Kompetenzraster. Auf diese Weise entwickelt sich für jedes Fach ein individuelles und differenziertes Kompetenzprofil. Die Lernenden sehen immer, wo sie stehen. Sie können ihre Situation anschaulich vergleichen mit den Anforderungen weiterführender Ausbildungen. Und sie können ihr Programm entsprechend bedürfnisgerecht gestalten. Der Ausgangspunkt liegt immer beim Ich-kann. Auf den Kompetenzrastern werden diese archimedischen Punkte des Lernprozesses sichtbar gemacht. Kompetenzraster schaffen Orientierung für die Schülerinnen und Schüler. Damit wird das Fundament gelegt für ein individuelles Lernen, das nicht Gefahr läuft, irgendwo in Frust oder Beliebigkeit zu enden. Denn die Lernenden können erkennen, wo sie stehen. Und sie können sehen, was die nächsten Schritte sind. Die Ziele sind klar. Sie sind der individuellen Situation angepasst. Das wiederum erhöht die Erfolgswahrscheinlichkeit.
Kompetenzraster begleiten den Lernprozess und machen die Entwicklung eines gemeinsamen Qualitätsverständnisses möglich. Bedingung ist freilich, dass die Lernenden mit den Rastern arbeiten. Auf diese Weise sind sie nicht einfach von einer Leistungsbeurteilung betroffen. Nein, sie sind aktiv daran beteiligt. Wenn schulisches Lernen stärker mit dem Wort »selbst« verbunden werden soll, braucht es die Lernenden dazu. Das heißt: Sie müssen sich als Teil der Lösung und nicht als Teil des Problems fühlen. Kooperatives und partnerschaftliches Arbeiten verlangt nicht nur nach einem Klima des Vertrauens, sondern – und das ist damit verbunden – nach einer Klärung der Erwartungen. Oder anders gesagt: Lernende müssen wissen, was individuell gesehen »gut« ist, damit sie »gut« sein können.
Zusammenspiel von Kompetenzraster und Checklisten
Beispiel Checklisten
Die Formulierungen in den Kompetenzrastern sind – auch aus Platzgründen — manchmal etwas allgemein gehalten. Deshalb werden sie in Form von Checklisten ausdifferenziert. Im Kompetenzraster heißt es beispielsweise: »Ich kann mich in Alltagssituationen verständigen.« In der entsprechenden Checkliste wird ausgeführt, was darunter alles zu verstehen ist. Zum Beispiel: »Ich kann nach dem Weg fragen.« »Ich kann mich und meine Familie vorstellen.« »Ich kann eine Fahrkarte kaufen«. Und so weiter. Checklisten operationalisieren die Kompetenzraster.
Beispiel Roadmaps
Lernen ist ein Ausflug in unbekanntes Gelände. Da ist es hilfreich, eine Landkarte oder eine Wegskizze dabei zu haben. Roadmapping versteht sich als Methode, die relevanten Lernziele (zum Beispiel aus der Checkliste) in die grafische Form einer Karte – eben einer Roadmap – umzugestalten. Sie zeigt – in Analogie zu einer Straßenkarte – mögliche Wege von einem Ausgangspunkt zu einem Ziel. Lernende verbalisieren das, was für sie an einem bestimmten Thema wichtig, bedeutsam, relevant ist. Und dann zeichnen sie den Weg dorthin auf. Er enthält beispielsweise Meilensteine, Aufenthaltsorte, Abstecher, Verbindungen zu anderen Themen, mögliche Hindernisse. In jedem Fall ist die Roadmap ausgestaltet mit kleinen Skizzen, mit Symbolen, allenfalls mit Fotos. Die emotionale Auseinandersetzung mit der unmittelbaren Lernzukunft dient der Volition und erhöht die Eintretens- und Erfolgswahrscheinlichkeit. Roadmaps können erstellt werden für einzelne Themenbereiche oder Zeitabschnitte. Großformatig können sie aber auch fortlaufend die Verbindung zwischen Herkunft und Zukunft visualisieren.
Beispiel Indikatorenlisten
Wenn es weniger um fachliche als vielmehr um soziale oder personale Kompetenzen geht, können auch Indikatorenlisten als Orientierungsinstrumente dienen. Indikatorenlisten beschreiben, woran man etwas erkennen kann. Also: Woran lässt sich beispielsweise »Beharrlichkeit« erkennen? Oder »Einfühlungsvermögen«? Oder »Integrationsfähigkeit«? Auch und gerade bei solchen Anschlusskompetenzen müssen alle Beteiligten sich im Klaren darüber sein, wer was darunter versteht. Und ob wirklich alle vom Gleichen sprechen, wenn sie vom Gleichen sprechen.
Die Indikatorenlisten können ergänzt werden durch eine Zehnerskala. Diese Skala gibt den Lernenden die Möglichkeit, sich selber einzuschätzen. Und sie gibt die Möglichkeit für Fremdbeurteilungen, sei es durch LernCoaches, durch Mitlernende oder durch Drittpersonen außerhalb der Schule. Die Gemeinsamkeiten und mehr noch die Unterschiede solcher Selbst- und Fremdeinschätzungen kommen einer lösungsorientierten Förderdiagnose gleich: Wo stehe ich? Wohin will ich? Was brauche ich dazu?
Beispiel Advance Organizer