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Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte / Thirteen Ways of Looking at a Short Talk
Anne Carson
Dreizehn Blickwinkel
auf Einige Worte
Aus dem Englischen von Anja Utler
Thirteen Ways
of Looking at a Short Talk
Herausgegeben von Matthias Kniep und Thomas Wohlfahrt
Wallstein Verlag
Die Berliner Rede zur Poesie wurde am 7. Juni 2020 im Rahmen des 21. poesiefestival berlin gehalten, veranstaltet vom Haus für Poesie.
Inhalt
Dreizehn Blickwinkel auf Einige Worte
Thirteen Ways of Looking at a Short Talk
Kurzbiografien
1. Einige Worte dazu worüber ich am meisten nachdenke
Irrtümer.
Und die Gefühle dazu.
An der Grenze zum Irrtum liegt die Angst.
Inmitten eines Irrtums herrschen Torheit und Niederlage.
Den eigenen Irrtum zu erkennen verursacht Scham und Schuldgefühle.
Wirklich?
Schauen wir uns das genauer an.
Eine Menge Leute, darunter Aristoteles, halten den Irrtum
für einen interessanten und wertvollen geistigen Vorgang.
In seiner Rhetorik erörtert Aristoteles die Metapher
und sagt, es gibt drei Arten von Wörtern.
Fremdartige, gewöhnliche und metaphorische.
»Fremdartige Wörter verwirren uns einfach;
gewöhnliche vermitteln etwas, das wir schon wissen;
die Metapher aber liefert uns etwas Neues und Frisches«
(Rhetorik, 1410b10–13).
Was ist das Frische an einer Metapher?
Aristoteles sagt, die Metapher erlaubt dem Denken sich selbst dabei zu erleben
wie es einen Fehler macht.
Er stellt sich vor wie das Denken sich über die glatte Oberfläche
gewöhnlicher Sprache bewegt
und diese Oberfläche
wird auf einmal brüchig oder kompliziert.
Unerwartbarkeit taucht auf.
Alles wirkt zunächst sonderbar, widersprüchlich oder falsch.
Dann ergibt es Sinn.
Und in diesem Moment, so Aristoteles,
wendet sich das Denken an sich selbst und sagt:
»Wie wahr! Und doch hatte ich mich geirrt darin!«
Aus dem wahren Irren der Metapher lässt sich etwas lernen.
Nicht nur, dass die Dinge anders sind als sie scheinen,
weshalb wir uns in ihnen irren,
sondern auch, dass diese Irrtümer wertvoll sind.
Nicht abbringen lassen davon, sagt Aristoteles,
hier gibt es viel zu sehen und zu fühlen.
Metaphern lehren das Denken
die eigenen Fehler zu genießen
und etwas zu lernen
aus dem Nebeneinander dessen, was der Fall ist, und was nicht.
Ein chinesisches Sprichwort sagt,
Ein einzelner Pinselstrich schreibt keine zwei Zeichen.
Und doch
macht ein guter Fehler genau das.
Hier ein Beispiel.
Es ist ein Fragment aus der altgriechischen Lyrik,
das einen arithmetischen Fehler enthält.
Der Dichter scheint nicht zu wissen,
dass 2 + 2 = 4.
Alkman Fragment 20:
[?] machte drei Jahreszeiten, Sommer
und Winter und Herbst als die dritte
und als viertes den Frühling wenn es
die Blüten gibt nur genug zu essen gibt
es nicht.
Nun lebte Alkman im 7. Jahrhundert v. Chr. in Sparta.
Sparta war ein armes Land
und es ist unwahrscheinlich, dass Alkman
dort ein wohlhabendes oder wohlgenährtes Leben führte.
Diese Tatsache bildet den Hintergrund für seine Äußerung,
die in den Hunger führt.
Hunger, wenn er dir widerfährt,
fühlt sich immer an wie ein Fehler.
Alkman erlaubt uns diesen Fehler gemeinsam mit ihm
zu erfahren
durch den zielführenden Einsatz einer falschen Rechnung.
Für einen armen Dichter in Sparta, der nichts
mehr in seinem Schrank hat
am Ende des Winters –
für den kommt der Fühling so
als hätte die Naturwirtschaft es sich plötzlich anders überlegt,
als viertes in einer Reihe von dreien,
was seine Arithmetik aus dem Gleichgewicht treibt
und seinen Vers ins Enjambement.
Alkmans Gedicht bricht ab, mitten in einem jambischen Metron,
ohne zu erklären,
woher der Frühling kam
oder warum Zahlen uns nicht dabei helfen,
die Wirklichkeit besser unter Kontrolle zu kriegen.
Es gibt drei Dinge, die mir an Alkmans Gedicht gefallen.
Erstens, dass es klein ist,
leicht
und mehr als perfektioniert ökonomisch.
Zweitens, dass es Farben andeutet etwa ein fahles Grün
ohne sie zu nennen.
Drittens, dass es ihm gelingt ein paar zentrale
metaphysische Fragen ins Spiel zu bringen
(wie Wer hat die Welt gemacht)
ohne offenkundiges Urteil.
Ihnen ist aufgefallen, dass das Verb »machte« im ersten Vers
kein Subjekt hat: [?]
Für das Griechische ist es sehr ungewöhnlich,
dass ein Verb kein Subjekt hat, tatsächlich
ist das ein grammatikalischer Fehler.
Strenge Philologen würden Ihnen sagen,
dass es sich schlicht um eine Überlieferungspanne handelt,
dass das Gedicht wie wir es haben
gewiss ein Fragment ist, abgebrochen
von einem längeren Text
und dass es so gut wie sicher ist, dass Alkman
den für die Schöpfung Verantwortlichen genannt hat
in den Versen, die dem vorangingen, was wir hier haben.
Das kann gut sein.
Aber wie Sie wissen, ist das Hauptziel der Philologie
alle Freude, die man an einem Text haben kann,
auf eine geschichtliche Panne zu reduzieren.
Und mir ist nie wohl bei der Behauptung, man wisse genau,
was ein Dichter sagen will.
Lassen wir also das Fragezeichen dort
am Anfang des Gedichts
und bewundern wir den Mut, mit dem Alkman
sich dem stellt, was es einklammert.
Und viertens gefällt mir
an Alkmans Gedicht
wie es den Eindruck erweckt,
dass ihm die Wahrheit wider Willen herausplatzt.
So mancher Dichter strebt nach
diesem Ton absichtsloser Klarheit,
aber nur wenigen gelingt er in dieser Einfachheit wie Alkman.
Natürlich ist die Einfachheit nur vorgetäuscht.
Alkman ist ganz und gar nicht einfach,
er ist ein Meistertüftler
an der Wirklichkeit –
oder, wie Aristoteles sagen würde, ihr »Nachahmer«.
Nachahmung (auf Griechisch mimesis) ist
Aristoteles’ Sammelbegriff für das wahre Irren der Poesie.
Mir gefällt an diesem Begriff
wie umstandslos er akzeptiert, dass das, womit
wir uns befassen, wenn wir Poesie betreiben, der Irrtum ist,
die mutwillige Produktion von Irrtümern,
der bewusste Bruch und die Verkomplizierung von Fehlern
bis zum Auftritt von
Unerwartbarkeit.
Damit umgeht ein Dichter wie Alkman
Angst, Sorge, Scham, Schuld und all
die anderen albernen Gefühle, die mit dem Fehlermachen in Verbindung gebracht werden
und nimmt es auf
mit der Tatsache an der Sache.
Für Menschen ist Unvollkommenheit die Tatsache an der Sache.
Alkman bricht die Regeln der Arithmetik,
gefährdet die Grammatik
und lässt die Metrik in seinem Vers auflaufen,
um uns mit dieser Tatsache in Berührung zu bringen.
Diese Tatsache bleibt auch am Ende des Gedichts
und Alkman hat wahrscheinlich noch genauso viel Hunger.
Nur in unserem Erwartungsquotienten hat sich etwas geändert.
Indem er die Erwartungen in die Irre gehen ließ,
hat Alkman etwas perfektioniert.
Tatsächlich hat er
etwas mehr als perfektioniert.
Mit einem einzelnen Pinselstrich.
2. Einige Worte zu Ovid
Ich kann ihn dort sehen, es ist eine Nacht wie heute, aber kühl, der Mond fegt durch die schwarzen Straßen. Er isst zu Abend, geht dann zurück in sein Zimmer. Das Radio auf dem Boden. Seine leuchtend grüne Skala plärrt leicht. Er setzt sich an den Tisch; Menschen im Exil schreiben so viele Briefe. Jetzt weint Ovid. Jeden Abend um diese Zeit zieht er sich die Traurigkeit über wie ein Kleidungsstück und schreibt weiter. In seiner Freizeit bringt er sich die Regionalsprache bei (Getisch), um in ihr ein Versepos zu schreiben, das nie jemand lesen wird.
3. Einige Worte zu Joseph Conrad
1907 las Joseph Conrad in Londons Bibliothek. Nach der Lesung kam eine rothaarige Frau auf ihn zu. Er hatte sie schon vorher gesehen wie sie ihre Kreise zog und sich ganz hinten hinsetzte, sich aber nichts dabei gedacht. »Ich kenne Sie aus dem Kongo«, sagte sie jetzt, »ich kenne Ihre Ehefrau.« Meine Ehefrau? dachte er, aber weil sich seine Seele gerade laut röhrend zurückzog, wie immer nach einer Lesung, konnte er sie kaum hören oder sich daran erinnern wie das ging, Englisch. Hatte sie gesagt »kenne Sie genau«, nicht »Ihre Ehefrau«? Ihre Stimme, eine Krähenstimme, stieß nach ihm, irgendein Wochenende, »alle miteinander verbracht«, und am nächsten Tag habe er ihr einen Brief geschickt, ein Gedicht. Weit hinten in seinem Kopf stieg Panik auf, etwas entpackte sich. Er drehte sich weg, lenkte sich ab. Schuld war die Berührung durch etwas Vergangenes, war ihm zuwider, ihn wunderte wie sehr. Sie schloss sich zum Abendessen an, das Charles (der Londoner Bibliothekar) in einem nahegelegenen Bistro bestellt hatte. Sie hastete den anderen hinterher, und weil die Berührung durch dieses »Ehefrau« oder »kenne genau« auf der Innenseite seiner Haut brannte wie Gift, durfte Joseph Conrad ihrem Blick nicht begegnen, er sich von keinem Pathos vernebeln lassen, und als sie sich ans Ende des Tisches setzte und laut zu jedem sprach, der ihr zuhörte, spürte er, wie das rupfte an seiner Schläfe, aber er drehte sich nicht hin, jetzt, wo er einmal damit angefangen hatte, musste er sie immer weiter ignorieren, und das Abendessen dauerte. Es war unfair. In anderen Zusammenhängen bewunderte er Durchhaltevermögen. Sie war dabei, zu ertrinken. Er drehte sich nicht hin. Das Licht der reinen Vernunft gleicht, wie Joseph Conrad gern sagte, in seiner Kälte der Elektrizität. Stolze Fügungen wie diese kamen ihm manchmal beim Schwimmen in den Sinn, wirkten danach aber etwas deplatziert. Nein, diese Rettungsaktion war jenseits seiner Möglichkeiten (und er war ein Retter).
Irgendwann war das Abendessen zu Ende. Es war immer noch 1907. Niemand war ertrunken. Sie ruckten sich ihre Mäntel auf die Schultern und sagten nette Abschiedssachen. Er bekam keinen Blickkontakt zu ihr. Sie brachen alle gemeinsam auf zurück zur Bibliothek, um dann ihrer Wege zu gehen. Es war eine Nacht im frühen Winter. Er wurde zutiefst ungeduldig mit sich, glühte vor Feigheit. Sein Herz schlug zu schnell. Er ließ sich ein wenig zurückfallen und ging neben ihr. Sie wirkte nicht überrascht. Unerkanntheit umschloss sie, als ob sie ein Spiel spielten, als ob Tücher sie umhüllten oder sie durch alte Räume irrten. Wie sie auf Weißbrot gekommen waren, konnte er später nicht mehr sagen, aber es leuchtete in seinem Kopf, dieses Gespräch, wie das Brot geleuchtet hatte und er versuchte ihr das alles zu sagen. Vielleicht hatte sie davon gesprochen, in einer Schlange im Morgengrauen um Brot anzustehen, geschickt von der Mutter, und dann wieder heim zu laufen mit einem Laib schwer wie zwei Schulbücher. Selbst wenn man jetzt von Brot träumte, dann nicht vom groben dunklen Brot der Kindheit, da gab ihr Joseph Conrad recht. Traumbrot, das mythische Brot, war so weiß wie frisch gewaschene Manschetten. Einmal war er in sein Heimatland gefahren von London aus und man hatte ihn zu einer Taufe auf dem Land eingeladen. Es war Juni. Auf dem Hinweg zog es sich zu, mattgrau, verwaschen, ein Sommerwetter typisch für die Region. Die übliche Zeremonie, in einer kleinen weißen Kirche, wo sie alle dicht gepackt saßen wie Zähne und kurzen jubelnden Liedern zuhörten, die ein zehnjähriges Mädchen, die Schwester des neuen Babys, falsch sang. Die Sonne kam heraus. Alle stürzten sie aus der Kirche. Standen zwischen Gräbern, sprachen, staunten. Weite unbestimmte Felder liefen zu allen Seiten bis an die Berge. Er erinnerte sich an das Gefühl, ein kleiner Fleck zu sein inmitten eines Grüns so gleißend, dass die Augen davon schmerzten. Bald darauf stieg man in Autos und fuhr zum Mittagessen in ein nahegelegenes Bauernhaus, Sonnenlicht ergoss sich weiter über alles.
Am Bauernhaus standen alle Türen offen, Kinder stolperten raus und rein, überall geschäftige Gespräche. Er kannte kaum jemanden, stand also in einem Zimmer drinnen und verschaffte sich Überblick für den Fall, dass er einmal darüber schreiben würde, neben ihm ein Tisch gehüllt in Spitze und vollgepackt mit Kuchen. Einer der Kuchen war dick wie zwei Schulbücher – mit einem Lächeln benutzte er ihren Vergleich –, verziert mit dem Namen des neuen Babys. Ein Kuchen in der Form eines Bären mit Schokoguss und voll mit Bonbons, die für die Kinder herausquollen. Viele lockere Sahnetorten und mehrere hohe klotzähnliche Strukturen mit Schichten roter Marmelade. Es gab auch kleinere Gerichte, Cracker mit Shrimps darauf und ähnliches, und zu guter Letzt und relativ spät wurde auf einem eigenen blau gemusterten Porzellanteller und unter einer Anmutung respektvoller Eile ein Stapel Weißbrotscheiben hereingetragen. Der Teller kam, aus Zufall, in einem Sonnenstrahl zu stehen, und das Weißbrot leuchtete, in seiner eigenen Frömmigkeit, auf der Spitzendecke in diesem schattigen Zimmer, abgestellt in der Geschichte eines sonnigen Nachmittags auf uraltem Landbesitz inmitten von Feldern, die sich bis an die Grenzen des Denkens erstreckten.
Niemand aß das Weißbrot. Es war nicht da, um gegessen zu werden. Es war ein Kapitel Zivilisation. Er hatte dieses Kapitel gelebt und sie hatte das auch, diese rothaarige Frau, an armen Orten zu armen kindischen Zeiten, als ein leuchtender Berg knuspriger Weißbrote in einem Schaufenster doppelt so hell strahlte wie die Rubine und Diamanten, die der Juwelier ein Stück weiter auf derselben Straße ausstellte. Die beiden standen vor Londons Bibliothek, herauskatapultiert aus der Erinnerung, benommen durch die sexuelle Nähe von Verehrung. Sie setzte an, um etwas über Metaphern zu sagen, darüber, dass Metaphern auch wirklich seien, das interessierte ihn nicht. Er betastete seine Taschen nach dem kleinen Notizbuch, in dem er gern Gedanken festhielt, aber er hatte es im Hotel gelassen. Er zog sich selbst um sich zusammen und entkam.
4. Einige Worte zu Forellen
Das Haiku, so Kawabata, kennt in Bezug auf Forellen diverse Wendungen – ›Herbstforelle‹ und ›absteigende Forelle‹ und ›rostige Forelle‹ sind unter den von ihm erwähnten. ›Absteigende Forelle‹ und ›rostige Forelle‹ sind Forellen, die ihre Eier gelegt haben. Erschöpft, komplett ausgelaugt, schwimmen sie ins Meer hinab. Natürlich gab es manchmal auch Forellen, die in tiefen Gumpen überwinterten. Sie wurden ›verbliebene Forellen‹ genannt.
5. Einige Worte zu Flaubert
Früher einmal hielt ich mich für eine Romanautorin. Mein Erfolg als Romanautorin war überschaubar. Aber immer hatte mir eine andere Art Roman vorgeschwebt, und auch, als mir allmählich klar wurde, dass davon auch alle anderen Romanautoren fantasieren, ließ ich mich nicht beirren, selbst wenn ich nicht wusste, was das sein sollte, außer wahr und unabweisbar, wenn es erst so weit war. Dann würde ich sagen können, jetzt schreibe ich.
Wo würden Sie einen dritten Arm platzieren?, ist eine Frage, die in Kreativitätstests gestellt wird, heißt es zumindest. Wird diese andere Art Roman
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