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Von Gangstern, Diven und Langweilern
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Von Gangstern, Diven und Langweilern

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Der Autor dankt der Pädagogischen Hochschule Zürich für die Unterstützung von Break-Thru, insbesondere der Kollegin Ursula Ochsner für ihre tatkräftige Mithilfe und ihre wertvollen inhalt­lichen Anregungen.

Allan Guggenbühl

Von Gangstern, Diven und Langweilern Break-Thru – Geschichten als Inspirationsquelle und Mittel der Klassenführung ISBN Print: 978-3-0355-0190-2 ISBN E-Book: 978-3-0355-0202-2 1. Auflage 2014 Alle Rechte vorbehalten © 2014 hep verlag ag, Bern www.hep-verlag.com

Inhalt

Einleitung

Teil 1 Heutige Herausforderungen für Lehrpersonen

1 — Klassen als heterogene Gebilde

1.1 Gruppencodes und Tabuisierungen in Klassen und Schulen

1.2 Parallelwelten

1.3 Der Einfluss der Gleichaltrigen

1.4 Die Lehrperson als Gegenfigur

1.5 Die Bedeutung von Regeln in der Schule

Problematik der Regeln

1.6 Geschichten als Spielraum über die Regeln hinaus

Teil 2 Geschichten als Mittel der Klassenführung

2 — Die psychologische Bedeutung von Geschichten

2.1 Eindrücke in einen Zusammenhang stellen und Sinn kreieren

2.2 Themen werden auf den Tisch gebracht

2.3 Sensibilisierung

2.4 Selbstbild entwerfen

2.5 Geschichten stiften Identität

2.6 Motivation für Einzelne und Gruppen

2.7 Geschichten als Ausdruck der persönlichen Matrix

3 — Geschichten als Denkanstoß

3.1 Mut zum wertfreien Dialog

3.2 Das Erzähltheater Kamishibai

3.3 Das Mythodrama

3.4 Narrative Lernprozesse

4 — Fazit

Teil 3 Anlage der Unterrichtseinheiten/Methode

5 — Aufbau der Unterrichtseinheiten

6 — Vorbereitungen der Lehrperson

6.1 Befindlichkeit der Klasse abklären

6.2 Thematische Gegensätze identifizieren

6.3 Eine Geschichte auswählen

7 — Durchführung

7.1 Einstimmung

7.2 Befindlichkeitsrunde

7.3 Einführung der Figuren

7.4 Erzählakt

7.5 Fortsetzung(en) der Geschichte

7.6 Bearbeitung

7.7 Inhalt der Fantasien

7.8 Interpretation

7.9 Transfer

7.10 Konkrete Änderung

Teil 4 Mobbing

8 — Erscheinungsbilder und Maßnahmen

8.1 Erscheinungsbilder von Mobbing

8.2 Wieso wird in Klassen gemobbt?

8.3 Mobbingmethoden

8.4 Mobbingtypen: Außenseiter, auffälliges Verhalten, Narzisst

Auffällige Kinder

Unschuldige Mobbingopfer

Narzisstische Mobbingopfer

8.5 Psychologische Folgen

8.6 Maßnahmen gegen Mobbing in der Klasse

Differenzen zulassen, kein Harmonieterror

Einstellung der Lehrperson: Gruppe nicht spalten, sondern zusammenbringen

Alphatiere frühzeitig miteinbeziehen

Gemeinschaft pflegen (verbindende Erlebnisse)

Palaverrunden

Verdachtsmomente ausdrücken, direkt ansprechen

Gespräche mit Fragen statt Antworten abschließen

Kleine Änderungen in der Klasse vornehmen

Gesprächskultur pflegen

Dramen statt Mobbing

Beispielgeschichten

Die Rache der Diva

Der Gangster

Die mysteriöse Inselbevölkerung

Die Goldgräber

Anhang

Was ein guter Erzähler mitbringen sollte

Empathie für die Zuhörenden

Fantasie

Hingabe

Schritte und Elemente einer Interpretation

Erster Eindruck

Dynamik

Persönliche Assoziationen

Symbole

Tonalität

Bewegungen

Interaktionen

Metaphern

Farben

Komposition

Wiederkehrende Motive

Break-Thru während eines Projekthalbtags

EINLEITUNG

Was geht wirklich in den Köpfen und Herzen unserer Lernenden vor? Merken wir als Lehrpersonen, was die Klasse beschäftigt? Wie können wir Themen wie Freundschaft, Verrat, Angst oder Mut aufgreifen?

Als Lehrperson möchten wir den Unterricht auf die Lernenden abstimmen und Themen behandeln, die in ihrem Leben bedeutsam sind. Wenn wir ihre Stimmungen, Ängste und Sorgen kennen, wenn wir wissen, mit welchen Themen sie sich beschäftigen und identifizieren, dann steigt unsere Chance auf erfolgreichen Unterricht.

Aber leider bleibt uns oft verborgen, was die Klasse wirklich umtreibt und interessiert: Ein Schüler wird gemobbt, ein Konflikt zwischen Untergruppen bahnt sich an, oder die Lernenden sind vor allem vom Thema »Erfolg und Misserfolg« absorbiert.

Wegen der Alterskluft und der unterschiedlichen Positionen und Funktionen besteht zwischen Lernenden und Lehrpersonen eine natürliche Barriere. Allein schon dies hat zur Folge, dass die Lernenden ihren Lehrpersonen nicht jedes Anliegen spontan mitteilen werden. Außerdem sind wir bekanntlich alle bei gewissen Themen besonders vorsichtig. Über Sexualität, persönliche Probleme, existenzielle Fragen oder Schwierigkeiten mit sich selbst äußert man sich ungern. Lernende handeln wichtige Fragen unter sich ab, oder sie wissen nicht recht, wie sie ihre Lehrperson miteinbeziehen können.

Break-Thru (Durchbruch) versucht, solche Schranken zu durchbrechen. Bei diesem Programm geht es zunächst einfach um Unterstützung von Lehrpersonen, die ihre Schüler und Schülerinnen verstehen wollen. Ihnen will Break-Thru auf spielerische Weise den Einstieg in die Welt der Jugendlichen ermöglichen. Dabei wird mit Geschichten gearbeitet. Sie dienen als Lernmedium. Geschichten helfen, das Verhalten der Menschen einzuordnen und zu verstehen.[1] Geschichten dienen als Zwischenglied zur Schülerschaft. Anhand von Geschichten erfahren aber auch die Lernenden selbst die Hintergründe und Dynamiken des Sozialverhaltens.[2] Nicht jede Geschichte ist indes für unsere Zwecke geeignet. Lehrgeschichten, moralisierende oder zu brave Geschichten langweilen oder irritieren. Damit eine Geschichte spannend wird, muss sie auf eine Differenz oder etwas Ungewöhnliches hinweisen. Wir entwickeln Geschichten, um von der Norm Abweichendes einzufangen und zu verstehen.[3] Break-Thru beschreibt, welchen Kriterien Geschichten genügen müssen, damit sie die Lernenden erreichen und man mit ihnen ins Gespräch kommt. So sollten Geschichten zum Beispiel ungewohnte Bilder enthalten, und es sollten darin Szenen geschildert werden, die man nicht erwartet. Dank solchen mental movers wird der Denkhorizont der Schüler und Schülerinnen erweitert, sie legen dann eher ihre sozial angepasste Maske ab und berichten von ihren Wünschen, Erlebnissen und Fantasien. Break-Thru zeigt, wie man als Lehrperson Geschichten einsetzt, wie man sie erzählt und dabei ungewohnte Themen und Anliegen der Lernenden aufgreifen oder vertiefen kann. Dabei werden die Geschichten nicht nur über Worte vermittelt, sondern auch durch spezielle Bilder untermalt oder konterkariert.

Bei Break-Thru handelt es sich also um ein Programm, das den Dialog zwischen Lehrpersonen und Lernenden fördern will: Lehrpersonen sollen mit ihren Lernenden über Fragen ins Gespräch kommen, die selten im Klassenrahmen geäußert werden, weil die Schülerinnen und Schüler vielleicht glauben, dass sie die Themen nicht ansprechen dürfen, oder weil ihnen dazu schlicht die Worte fehlen. Oft verhindern auch die Mechanismen der sozialen Anpassung,[4] dass Lernende ihre Anliegen, Gedanken und Sorgen gegenüber der Lehrperson offenlegen. Sie schweigen, weil sie einen guten Eindruck machen möchten. Sie halten sich zurück. Selbst sehen es die Lernenden anders. Viele sind überzeugt, dass sie sich über alles äußern können.

Sie täuschen sich jedoch. Ihre Selbstbeschreibung stimmt nicht mit ihrem Verhalten überein. Ihre Aussagen werden durch das Schulsetting bestimmt. Da sie sich anpassen, merken sie nicht, dass sie Gedanken und Emotionen ausschließen, die nicht in den sozialen Kontext passen. Das Schulsetting, die Erwartungen der Kolleginnen und Kollegen und die der Lehrpersonen bestimmen, worüber geredet werden darf. Break-Thru soll den Lernenden helfen, solche inneren und äußeren Widerstände zu überwinden. Break-Thru dient aber noch einem weiteren Zweck. An den Reaktionen der Lernenden auf die Geschichte, an der Art, wie sie weiterfantasiert und gespielt wird, erkennt die Lehrperson auch, was sonst noch in der Klasse abläuft. Welchen Einfluss und welche Machtpositionen haben die einzelnen Schülerinnen und Schüler? Wie ist der Klassengeist? Wird jemand gemobbt? Da die Schülerinnen und Schüler oft nicht über das Geschehen und die Dynamik in der Klasse sprechen, ist es für Lehrpersonen nicht leicht zu erkennen, was zwischen den einzelnen Lernenden abläuft. Break-Thru hilft dabei, auf eine bestimmte Fragestellung eine Antwort zu erhalten.

Break-Thru entstand auf der Basis der Interventionen, die ich bei Schulklassen mit speziellen Problemen im Rahmen meiner Anstellung als Leiter der Abteilung Gruppenpsychotherapie der kantonalen Erziehungsberatung, Regionalstelle Bern und des Instituts für Konfliktmanagement in Zürich durchführte.[5] Zu solchen Kriseninterventionen kam es, wenn Lehrpersonen mit unüberwindbaren disziplinarischen Problemen konfrontiert waren oder wenn Gewaltvorfälle bewältigt werden mussten. Um die Schulklassen zur Kooperation zu bewegen, reichten herkömmliche Ansätze wie das Gespräch oder der Hinweis auf Schulhausregeln nicht. So begann ich, mit Geschichten zu arbeiten. Auf diesem Weg gelang es mir und meinen Kollegen und Kolleginnen, die Schulklassen zu überzeugen, dass sie mitarbeiteten und konstruktive Lösungen suchen halfen.[6] In den letzten zwanzig Jahren wurden unzählige Kriseninterventionen mithilfe des Mythodramas und unter meiner Anleitung in der Schweiz, aber auch in Schweden, den USA (Connecticut) und Georgien durchgeführt.[7] Aufgrund dieser erfolgreichen Interventionen wurde die Methode im Rahmen von Projekttagen auf reguläre Schulklassen übertragen und schließlich zum Modell Break-Thru entwickelt. Dies mündete endlich in ein Projekt der Pädagogischen Hochschule Zürich, bei dem in Zusammenarbeit mit einer Oberstufe[8] Lehrpersonen untersuchten, wie sich Geschichten als Mittel der Klassenführung einsetzen lassen.

TEIL 1

HEUTIGE HERAUSFORDERUNGEN FÜR LEHRPERSONEN

1 — Klassen als heterogene Gebilde

1 — Klassen als heterogene Gebilde

Aus psychologischer Sicht betrachtet, gibt es kaum Institutionen, die schwieriger zu führen sind als Schulen. Die Beteiligten kommen gewissermaßen zufällig zueinander, sie werden nicht speziell ausgewählt und rekrutieren sich auch nicht aus einem bestimmten sozialen Kreis. Vor allem die Volksschule ist offen für Menschen aus allen sozialen Schichten, mit unterschiedlichsten Prägungen, Persönlichkeitsprofilen, Biografien und ethnischen Hintergründen. Die Schülerinnen und Schüler unterscheiden sich in ihren Werten, Interessen, Einstellungen und Motivationen. Einzelne Lernende sehen in der Schule eine Zwangsinstitution, würden lieber gamen oder herumhängen, andere freuen sich auf die Schulstunden, wieder andere interessieren sich vor allem für ihre Kolleginnen und Kollegen. Die Temperamente sind verschieden: Einzelne Lernende fallen durch eine hohe Aggressionsbereitschaft auf, andere können sich schlecht konzentrieren, und wieder andere würden mehr lernen, wenn sie sich den Schulstoff selbstständig und allein aneignen könnten. Unterschiede gibt es auch auf der Seite der Lehrpersonen. Selbst nach einer fundierten Ausbildung und mit stetigen Qualitätskon­trollen unterrichten Lehrpersonen unterschiedlich und je nach ihrem Persönlichkeitstyp anders. Weil die Zusammensetzung einer Klasse immer einzigartig ist, entwickelt jede Schulklasse ein spezifisches Profil. In der einen Klasse sind alle auf Draht, Spannungen und Animositäten prägen das Klima. Eine andere Schulklasse unterrichtet sich fast von allein, da positiv eingestellte Lernende den Ton angeben.

Als Reaktion auf die spezifischen Profile entwickeln sich in jeder Klasse eigene Umgangsformen und Regeln. Da die Mehrzahl der Lernenden wie auch der Lehrpersonen heftige Auseinandersetzungen, Fehltritte und Streitigkeiten vermeiden, passt man sich dem jeweiligen Klassengeist an. Man verhält sich nicht wie im Privatleben oder in der Freizeit, sondern es entwickeln sich Codes, ungeschriebene Vorgaben, wie man sich in der betreffenden Klasse zu verhalten hat.

Codes definieren, was erlaubt ist, welche Themen angesprochen werden dürfen und wie man miteinander umgeht. Solche Codes werden nicht bewusst aufgestellt, sondern sie entwickeln sich unbewusst als Antwort auf wahrgenommene Differenzen. Man realisiert, dass Differenzen sich negativ auswirken oder Probleme verursachen können. Sowohl die Schülerinnen und Schüler als auch die Lehrpersonen bewegen sich auf einem Minenfeld. Viele Lernende verstehen sich gegenseitig nicht, unterschiedliche biografische oder ethnische Hintergründe können zu Konflikten führen, die eskalieren können. Deshalb entwickelt eine Schulklasse solche Codes, damit man zivilisiert miteinander umgeht und die persönliche Integrität geschützt wird.

1.1 Gruppencodes und Tabuisierungen in Klassen und Schulen

Die Codes, die sich in einer Schulgemeinschaft entwickeln, werden nicht explizit gemacht. Sie werden selten aufgeschrieben und den Eltern oder den Lehrpersonen kommuniziert. Sie gelten, ohne dass man darüber spricht und ohne dass man sie reflektiert. Die meisten Lernenden erkennen die jeweiligen Codes und richten sich automatisch danach, passen sich ihrer Bezugsgruppe an. Sie realisieren etwa, dass man sich als Mädchen in einer bestimmten Klasse nicht die Haare färbt, dass man für eine bestimmte Musikgruppe schwärmt oder sich in einem bestimmten Fach anstrengt. Codes beeinflussen das Denken und die Wahrnehmung der Klassenmitglieder. Alle finden einen bestimmten Mitschüler hässlich, alle finden Staudämme langweilig.

Es gibt Codes, die sowohl für die Lehrpersonen als auch für die Lernenden Gültigkeit haben, andere gelten nur für die Lernenden. Die Klassengemeinschaft grenzt sich durch sie von den Erwachsenen ab. Oft widersprechen die Klassencodes den Leitlinien, die in der Schule aufgestellt wurden. In einer Klasse begannen die Jungen periodisch ein körperliches Kräftemessen zu organisieren. Sie wollten die Hierarchien unter sich klären. Diese Praxis stand im Gegensatz zu den offiziellen Verlautbarungen und Abmachungen der Klasse. Die Schüler hatten sich in einem Vertrag verpflichtet, keine Gewalt auf den Pausenplätzen zu tolerieren. Den Widerspruch lösten die Jungen für sich, indem sie in ihren Auseinandersetzungen »Friedenskämpflein« sahen. In ihrer Wahrnehmung handelte es sich nicht um Gewalt. In einer anderen Klasse war abgemacht, dass man die Musiklehrerin »doof« fand. Die arme Musiklehrerin konnte sich noch so bemühen, sie hatte gegenüber diesem Klassencode keine Chance. Auch wenn Schüler oder Schülerinnen ­eigentlich zufrieden waren mit ihrem Unterricht, durften sie es sich nicht eingestehen. Der Klassencode verbot es. Codes entwickeln sich im Laufe der Schulzeit, haben eine bestimmte Zeit Gültigkeit, bevor sie wieder verschwinden. Wenn man als Lehrperson über diese Codes reden, sie verändern oder kritisieren will, geraten die Lernenden in ein Dilemma. Einige merken vielleicht, wenn ein Code einem deklarierten Wert widerspricht. Meistens verdrängen sie den Widerspruch, weil sie keinen Ärger wollen, eine Strafe befürchten oder die Lehrperson nicht überfordern wollen. Gegenüber der Lehrperson geben die Schülerinnen und Schüler immer vor, dass sie natürlich »gegen Gewalt« sind, »niemanden ausgrenzen« oder »Alkohol selbstverständlich ablehnen«. Sie präsentieren sich gegen außen so, wie es verlangt wird, und verdrängen die Tatsache, dass es in der Klassengemeinschaft ganz anders abläuft, dass andere Codes herrschen.

1.2 Parallelwelten

Die Ausrichtung der Schülerinnen und Schüler nach klasseninternen Codes und Themen führt zur Entwicklung von Parallelwelten. Dort können sich Dynamiken entwickeln, von denen wir als Lehrperson wenig bis gar nichts mitbekommen. Die Lehrerin einer fünften Klasse hatte das Gefühl, dass bei ihr alles gut laufe. Das Klassenlager war ein voller Erfolg, und das Klima in der Klasse empfand sie seither als positiv. Sie fiel aus allen Wolken, als ein Brief der Schulbehörde auf ihrem Pult lag. Die Eltern eines Schülers forderten ultimativ die Versetzung ihres Sohnes! Die Situation sei für ihn in seiner jetzigen Klasse unerträglich. Er werde gemobbt, und er empfinde das Klassenklima als miserabel! Während der großen Pause spreche niemand mit ihm, seine Schulmaterialien würden mutwillig zerstört, und die Mädchen machten sich über seine Kleider lustig. Gemäß den Eltern hatte das Mobbing im Skilager begonnen. Die Lehrerin hatte indessen den Eindruck, dass die Stimmung in der Klasse ausgezeichnet sei. In Einzelgesprächen mit den Schülerinnen und Schülern war ihr nichts aufgefallen, und im Klassenrat war nie von Mobbing die Rede.

Wie kann man als Lehrperson von den klasseninternen Codes erfahren, ohne die Kohäsion der Klasse zu zerstören oder Lernende bloßzustellen? Oft wählen Lehrpersonen das Einzelgespräch mit Lernenden. Im Gespräch von Angesicht zu Angesicht sollte es, denken sie, möglich sein, die »Wahrheit« über das Klassengeschehen zu erfahren.

Vielfach gelingt dies auch, und man kann als Lehrperson einen Blick hinter die Kulissen werfen. Aber je älter die Kinder werden, desto schwieriger wird dieser Weg. Die Einzelgespräche führen nicht zum erhofften Erfolg. Vor allem sozial kompetente und empathische Schülerinnen und Schüler merken, wie sie sich zu verhalten haben und was sie sagen sollten. Sie stimmen sich auf die Lehrperson ein und übernehmen ihre Vorgaben. Sie lassen sich zudem durch das Autoritätsgefälle, die Persönlichkeit der Lehrperson und die offiziellen Leitlinien beeindrucken und beginnen zu täuschen. Eine Lehrperson kann noch so geschickt vorgehen, Ich-Botschaften einsetzen und sensibel auf das Kind eingehen, der Schüler oder die Schülerin verhält sich bedeckt. Sie oder er kann sich gar nicht über die internen Vorkommnisse in der Klasse äußern, da ein Code verletzt würde. Sie verraten dann nur so viel, wie die Situation erlaubt und sie sich selbst eingestehen können. Wenn eine Lehrperson eine Schülerin zum Beispiel fragt, ob sie von den Klassenkameraden akzeptiert werde, dann wird sie in einer solchen Situation antworten: »Ja, alle sind nett und freundlich zu mir.« Sie verschweigt, dass sie von Kolleginnen ausgeschlossen wird. Sie hat Angst, dass die negative Aussage sich zu einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung entwickelt, wenn die Gesamtklasse davon erfährt. Sie hätte die Klasse verraten. Wenn sie einer Autoritätsperson eingestehen würde, dass ihre Kolleginnen und Kollegen sie als komisch empfinden, dann werden die Anschuldigungen plötzlich wahr. Sie hält sich an den Klassencode, der bestimmt, dass die Auseinandersetzungen nur aus Spaß geschehen. So kann auch sie sich an die Hoffnung klammern, dass das Mobbing nur ein Spiel ist und sie bald akzeptiert sein wird.

Auch wenn die Schülerinnen und Schüler anscheinend offen über ihre Sorgen, Ängste, Hoffnungen und Träume reden, treffen sie eine Auswahl. Gewisse Themen dringen nicht bis zum Lehrerohr. Hänseleien, Grenz­überschreitungen und Mobbingdynamiken, jedoch auch Drogenkonsum, Erpressungen oder Schülerängste bleiben den Lehrpersonen oft verborgen. Die Lernenden fügen sich den Codes und Tabus ihrer Bezugsgruppe. Ähnliches kann man auch im Klassenrat beobachten. Viele Schüler und Schülerinnen verstehen es, Offenheit zu inszenieren. »Ich war sehr traurig, als meine Kollegin die Klasse verlassen musste, und mache mir Gedanken, ob ich ihr mehr hätte helfen können«, meinte eine Schülerin im Klassengespräch und verdrückte sogar eine Träne. Was sie nicht sagte, war, dass sie das gemobbte Mädchen als intrigant erlebt hatte und aktiv gegen sie vorgegangen war. Das Mädchen lügt jedoch nicht bewusst, sondern sie hat gegenüber der Lehrperson ein schlechtes Gewissen, weil sie realisiert, dass sie so nicht hätte handeln sollen.

Die Zugänglichkeit zu den Themen der Klasse reduziert sich also, wenn die Schülerinnen und Schüler in die Vorpubertät kommen – in der Regel im elften oder zwölften Lebensjahr. Ein Graben tut sich auf, auch wenn die Lernenden sich ihren Lehrpersonen gegenüber freundlich verhalten und sie sogar wirklich schätzen. Lehrpersonen haben eine Rolle zu erfüllen und stehen nicht als Privatpersonen vor der Klasse. Eine Tiefensicht auf die Schüler und Schülerinnen ist nicht einfach. Wer unterrichtet, für Disziplin sorgt und Unterrichtsziele zu erfüllen hat, muss aus psychologischer Sicht an der Oberfläche bleiben. Zu persönliche Fragen oder das Ansprechen von Tabuthemen würde den Unterricht stören. Eine Lehrerin kann einem Schüler nicht eingestehen, dass die meisten Mitschüler ihn nicht mögen, und eine Schülerin verbirgt vor ihrer Lehrerin, dass sie das Fach nur interessiert, weil ein Mitschüler es cool findet.

Die Inszenierung des Unterrichts geschieht nicht bewusst. Sowohl Lehrpersonen als auch Lernende haben die Grenze zwischen erlaubten und tabuisierten Aussagen und Handlungen internalisiert. Auch wenn alle sich Mühe geben, alles zu sagen, und versuchen ganz offen zu sein, verhindert ein innerer Hemmungsmechanismus, dass heikle Themen angesprochen werden.[9]

1.3 Der Einfluss der Gleichaltrigen

Je älter die Schülerinnen und Schüler werden, desto weniger richten sie sich direkt an ihrer Lehrperson aus. Sie orientieren sich nach ihren Kolleginnen und Kollegen. Fragt man Kinder ab der vierten Primarschulklasse, weshalb sie die Schule besuchen, dann betonen sie regelmäßig die Kontakte zu ihren Mitschülern und Mitschülerinnen. In ihrer Wahrnehmung ist nicht der Stoff, sind nicht die Lektionen, die Prüfungen und eigene Arbeiten das Wichtigste, sondern die Schule wird als sozialer Treffpunkt verstanden. Wichtig sind natürlich auch die Pausen, während deren man sich treffen kann.

Die Ausrichtung auf die Gleichaltrigen oder Peers entspricht einem entwicklungspsychologischen Bedürfnis. Während kleine und größere Kinder sich an ihren Eltern und an erwachsenen Bezugspersonen orientieren, sucht der Jugendliche vor allem die Akzeptanz seiner Kollegen und Kolleginnen. Der Fokus richtet sich auf die Peers. Freundschaften werden geschlossen, eine Clique wird gebildet, Klatsch und Tratsch wird ausgetauscht, Geheimnisse werden geteilt. Die Lernenden suchen in der Klasse nach Seelenverwandten und wollen Sehnsüchte, Träume, Hoffnungen und auch Ängste teilen. Sie erleben ihre Gleichaltrigen jedoch auch als Konkurrentinnen und Konkurrenten, mit denen man sich messen und vergleichen muss. Sie beginnen, sich selbst zu entdecken, und sehen in der Gemeinschaft der Peers einen Experimentierraum. Sie wollen herausfinden, wer sie sind, welches Persönlichkeitsprofil sie auszeichnet und welche Kompetenzen sie entwickeln werden. Die Suche nach einer eigenen Identität geschieht größtenteils in Auseinandersetzung mit den Gleichaltrigen. Zu den Erwachsenen geht man auf Distanz, weil man sich nicht mehr als Teil der Mutter, des Vaters versteht, sondern eigenständig sein möchte. Man entwickelt eigene Verhaltensweisen, einen eigenen Jargon und pflegt eigene Freizeitbeschäftigungen, um den Unterschied zu den Erwachsenen hervorzuheben. Oft wird der Einfluss der Erwachsenen sogar gefürchtet, da dadurch die Selbstständigkeitsversuche bedroht werden.

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