50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)
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50 Meisterwerke Musst Du Lesen, Bevor Du Stirbst: Vol. 2 (Golden Deer Classics)

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»Den da werden wir nicht so leicht loswerden,« sagte Blondet zu Rastignac, als er Lucien schöner als je und entzückend gekleidet in den Salon treten sah. »Es ist besser, man macht ihn sich zum Freunde, denn er ist zu fürchten,« sagte Rastignac. »Der?« sagte von Marsay. »Ich erkenne als furchtbar nur die Leute an, deren Stellung klar ist, und die seine ist eher unangegriffen als unangreifbar! Lassen Sie sehen, wovon lebt er? Woher hat er sein Vermögen? Ich bin überzeugt, er hat an die sechzigtausend Franken Schulden.« »Er hat in einem spanischen Priester einen sehr reichen Gönner gefunden, der ihm wohl will,« erwiderte Rastignac. »Er heiratet die älteste Fräulein von Grandlieu,« sagte Fräulein Des Touches. »Ja, aber«, sagte der Chevalier d'Espard, »man verlangt, daß er einen Landsitz von dreißigtausend Franken Rente kauft, um das Vermögen sicherzustellen, das er seiner Zukünftigen zuerkennen muß, und dazu braucht er eine Million, die man unter dem Fuß keines Spaniers findet.« »Das ist teuer, denn Klotilde ist recht häßlich,« sagte die Baronin.

Frau von Nucingen nannte Fräulein von Grandlieu aus Affektiertheit bei ihrem Vornamen, als verkehrte sie, eine geborene Goriot, in dieser Gesellschaft.

»Nein,« erwiderte du Tillet, »die Tochter einer Herzogin ist für uns Männer niemals häßlich; besonders dann nicht, wenn sie uns den Titel ›Marquis‹ und einen diplomatischen Posten mitbringt; aber das größte Hindernis für diese Heirat ist die sinnlose Liebe der Frau von Sérizy zu Lucien: sie muß ihm viel Geld geben.« »Es wundert mich nicht mehr, daß ich Lucien so ernst sehe; denn Frau von Sérizy wird ihm sicherlich keine Million geben, damit er Fräulein von Grandlieu heiratet. Er weiß gewiß nicht, wie er sich aus der Verlegenheit ziehen soll,« sagte von Marsay. »Ja, aber Fräulein von Grandlieu betet ihn an,« sagte die Gräfin von Montcornet, »und mit Hilfe des jungen Mädchens wird er vielleicht bessere Bedingungen erlangen.« »Was wird er mit seiner Schwester und mit seinem Schwager in Angoulême machen?« fragte der Chevalier d'Espard. »Aber«, erwiderte Rastignac, »seine Schwester ist reich, und er nennt sie heute Frau Séchard von Marsac.« »Wenn auch Schwierigkeiten vorhanden sind, so ist er doch ein recht hübscher Bursche,« sagte Bianchon, indem er aufstand, um Lucien zu begrüßen. »Guten Tag, lieber Freund,« sagte Rastignac, indem er einen warmen Händedruck mit Lucien tauschte. Von Marsay grüßte kühl, nachdem er zuerst von Lucien begrüßt worden war.

Vor dem Diner erkannten Desplein und Bianchon, die den Baron von Nucingen untersuchten, während sie mit ihm scherzten, daß seine Krankheit rein seelischer Natur war; aber niemand konnte die Ursache erraten, so unmöglich schien es, daß dieser tiefe Politiker der Börse verliebt sein sollte. Als Bianchon keine andere Erklärung für den leidenden Zustand des Bankiers mehr fand als die Liebe und als er Delphine von Nucingen ein paar Worte darüber sagte, lächelte sie wie eine Frau, die seit langem weiß, woran sie sich bei ihrem Manne zu halten hat. Als man jedoch nach dem Diner in den Garten hinunterging, umringten die Intimen des Hauses den Bankier; denn da sie Bianchon behaupten hörten, Nucingen müßte verliebt sein, so wollten sie diesen außerordentlichen Fall aufklären.

»Wissen Sie, Baron,« sagte von Marsay zu ihm, »daß Sie beträchtlich abgemagert sind? Und man hat Sie in Verdacht, daß Sie die Gesetze der Finanznatur vergewaltigen.« »Nimmals,« sagte der Baron. »Doch,« erwiderte von Marsay. »Man wagt die Behauptung, Sie seien verliebt.« »Recht hat mer,« erwiderte Nucingen jämmerlich. »Ich seifze um aine Unpegannte.« »Sie sind verliebt, Sie? … Sie sind ein Geck!« sagte der Chevalier d'Espard. »Wenn mer ist verliept in mainem Alter, ist mer lächerlich; kanz kewiß; aber was wollen Se! S'is so!« »In eine Frau aus der Gesellschaft?« fragte Lucien. »Aber«, sagte von Marsay, »der Baron kann nur durch eine hoffnungslose Liebe so abmagern; er hat die Mittel, alle Frauen zu kaufen, die sich verkaufen wollen und können.« »Kenn'n tu ich se nich,« erwiderte der Baron. »Und jetzt kann ich es Ihnen sagen, denn Frau von Nischinguen ist im Salon: ich hab noch nie kewußt, was die Liebe ist. Die Liebe? … Ich glaube, davon wird mer mager.« »Wo sind Sie dieser jungen Unschuld begegnet?« fragte Rastignac. »Im Wagen, nachts, im Wald von Vincennes.« »Ihre Personalbeschreibung?« sagte von Marsay. »Ain Schabot aus weißer Kase, rotes Klaid, weißer Kürtel, weißer Schlaier … Ain Kesicht, piplisch einfach! Feieraugen, orientalischer Täng.« »Sie haben geträumt!« sagte Lucien lächelnd. »Recht haben Se, ich schlief wie ain Sack … ain voller Sack,« verbesserte er sich, »denn ich kam von ainem Tiner auf dem Landgut maines Freindes … « »War sie allein?« fragte du Tillet, indem er den Luchs unterbrach. »War se,« sagte der Baron mit leidender Stimme; »nur hintern Wagen ain Heiduck und aine Zofe.« »Lucien sieht aus, als kenne er sie,« rief Rastignac, da er ein Lächeln des Liebhabers der Fräulein Esther auffing. »Wer kennt nicht die Frauen, die imstande sind, um Mitternacht auszufahren und Nucingen zu begegnen?« sagte Lucien, indem er sich im Kreise umdrehte. »Auf jeden Fall ist es keine Frau, die in die Gesellschaft geht,« sagte der Chevalier d'Espard, »denn dann hätte der Baron den Heiducken wiedererkannt.« »Ich hab se kesehen noch nirgendwo,« erwiderte der Baron; »und ich laß se suchen seit anderthalb Monaten von der Bolißei, die se nich findet.« »Lieber soll sie Sie ein paar hunderttausend Franken kosten, als das Leben; und in Ihrem Alter ist eine Leidenschaft, die keine Nahrung findet, gefährlich,« sagte Desplein; »man kann daran sterben.« »Ja,« gab Nucingen Desplein zur Antwort; »was ich esse, ernährt mich nicht, die Luft schaint mir tötlich; ich fahre in den Wald von Vincennes, um ßu sehn die Stelle, wo ich se kesehen habe! … Un das is main Leben! Ich hab nich können mich kimmern um die letzte Anlaihe: ich hab mich missen verlassen auf maine Kollägen, die hatten Mitlaid mit mir … Um aine Million möcht ich die Frau kennen lernen; ich würd noch kewinnen daqei, denn ich keh nich mehr an die Pörse … Fragen Se ti Dilet.« »Ja,« bestätigte du Tillet, »er hat einen wahren Abscheu vor den Geschäften; er wird anders, das ist ein Vorzeichen des Todes.« »Ein Szeichen von Liebe,« erwiderte Nucingen; »für mich ist das ain und dasselbe!«

Die Naivität dieses Greisen, der kein Luchs mehr war und der zum erstenmal in seinem Leben etwas Heiligeres und Geweihteres erkannte als das Gold, rührte diese Gesellschaft blasierter Leute: die einen tauschten ein Lächeln aus, die andern sahen sich mit einem Ausdruck an, als wollten sie sagen: ›Ein so starker Mensch, und dahin zu kommen!‹ Dann kehrten alle in den Salon zurück, indem sie von diesem Ereignis plauderten. Es war in der Tat ein Naturereignis, das die größte Sensation erregen mußte. Frau von Nucingen brach in Lachen aus, als Lucien ihr das Geheimnis des Bankiers entdeckte; aber als der Baron die Spöttereien seiner Frau hörte, nahm er sie am Arm und führte sie in eine Fensternische.

»Knädige Frau,« sagte er, »hab ich je kesagt ein spöttisches Wort ieber Ihre Laidenschaften, daß Sie sich machen lustik ieber maine? Aine kute Frau wirde helfen ihrem Mann, daß er sich ßieht aus der Verlegenheit, ohne ßu spotten, wie Sie es tun … «

Nach der Schilderung, die der alte Bankier entworfen hatte, erkannte Lucien seine Esther. Da er sich schon ärgerte, weil er sah, daß man sein Lächeln bemerkt hatte, so benutzte er den Augenblick allgemeinen Geplauders, während man den Kaffee servierte, um zu verschwinden.

»Wo ist denn Herr von Rubempré geblieben?« fragte die Baronin von Nucingen. »Er bleibt seiner Devise ›Quid me continebit?‹ treu,« erwiderte Rastignac. »Was ganz nach Belieben heißt: ›Was kann mich halten?‹ oder ›Ich bin unbezähmbar‹,« fuhr von Marsay fort. »In dem Augenblick, als der Herr Baron von seiner Unbekannten sprach, entschlüpfte Lucien ein Lächeln, aus dem ich schließen möchte, daß sie ihm bekannt ist,« sagte Horace Bianchon, ohne zu ahnen, wie gefährlich eine so natürliche Bemerkung war.

›Kut!‹ sagte der Luchs vor sich hin.

Wie alle verzweifelt Kranken griff der Baron nach allem, was eine Hoffnung zu sein schien; und er nahm sich vor, Lucien von andern Leuten überwachen zu lassen als denen Louchards, des gewandtesten Exekutors der Handelsgerichte, an den er sich vor vierzehn Tagen gewandt hatte.

Ehe Lucien sich zu Esther begab, mußte er ins Hotel der Grandlieus gehen, um dort die zwei Stunden zu verbringen, die Klotilde Friederike von Grandlieu zum glücklichsten Mädchen des Faubourg Saint-Germain machten. Die Klugheit, die das Verhalten dieses jungen Ehrgeizigen charakterisierte, riet ihm, Carlos Herrera alsbald darüber zu unterrichten, welche Wirkung das Lächeln gehabt hatte, das ihm entschlüpft war, als der Baron von Nucingen Esthers Bild entwarf. Die Liebe des Barons zu Esther und der Gedanke, der ihm gekommen war, sie durch die Polizei suchen zu lassen, waren übrigens als Ereignisse wichtig genug, um sie einem Menschen mitzuteilen, der unter der Soutane Zuflucht gesucht hatte, wie ehedem die Verbrecher in den Kirchen Zuflucht suchten. Und von der Rue Saint-Lazare, wo der Bankier damals wohnte, bis zur Rue Saint-Dominique, in der sich das Hotel Grandlieu befindet, führte Luciens Weg ihn bei seiner Wohnung auf dem Quai Malaquais vorbei. Lucien traf seinen furchtbaren Freund, wie er sein Brevier rauchte, das heißt eine Pfeife anbräunte, ehe er zu Bett ging. Dieser eher fremdartige als fremdländische Mensch hatte auf spanische Zigarren verzichtet, weil er sie zu milde fand.

»Das wird ernst,« erwiderte der Spanier, als Lucien ihm alles erzählt hatte. »Der Baron, der sich Louchards bedient, um die Kleine zu suchen, wird auch Geist genug haben, um dir einen Schergen auf die Fersen zu setzen, und alles würde bekannt. Die Nacht und der Morgen sind nicht zuviel, um die Karten für die Partie zu studieren, die ich gegen diesen Baron spielen will, um ihm vor allem die Ohnmacht der Polizei zu beweisen. Wenn unser Luchs jede Hoffnung aufgegeben hat, sein Lamm zu finden, so mache ich mich anheischig, sie ihm um den Preis zu verkaufen, den sie für ihn wert ist … « »Esther verkaufen?« rief Lucien, dessen erste Regung stets ausgezeichnet war. »Du vergißt unsere Lage!« rief Carlos Herrera.

Es handelt sich um unsere Tugendlivree, um unsere Mäntel der Ehrlichkeit, um den Windschirm, hinter dem die Großen all ihre Infamien verbergen … Es handelt sich um mein fürtreffliches Ich, um dich, der du nie beargwöhnt werden darfst. Der Zufall hat uns einen bessern Dienst geleistet als mein Denken, das seit zwei Monaten im Leeren arbeitete.«

Während Carlos Herrera diese furchtbaren Sätze einen nach dem andern hinwarf, zog er sich an und machte sich zum Ausgang bereit. »Du freust dich sichtlich,« rief Lucien; »du hast die arme Esther nie geliebt, und du siehst mit Wonne den Augenblick kommen, in dem du dich ihrer entledigen kannst.« »Du bist der Liebe zu ihr nie müde geworden, nicht wahr? … Nun gut, ich bin es nie müde geworden, sie zu verfluchen. Aber habe ich nicht immer gehandelt, als hinge ich aufrichtig an diesem Mädchen, ich, der ich durch Asien ihr Leben in der Hand hielt? Ein paar schlechte Champignons in einem Ragout, und alles wäre getan gewesen … Aber Fräulein Esther lebt! … Sie ist glücklich! Weißt du, weshalb? Weil du sie liebst! Spiele nicht das Kind. Seit vier Jahren warten wir jetzt auf einen Zufall, der für oder wider uns ist; nun, es gilt, mehr als bloßes Talent zu entfalten, um das Gemüse auszuzupfen, das das Schicksal uns heute hinwirft: in diesem Rouletteschlag liegt Gutes und Schlimmes, wie in allem. Weißt du, woran ich in dem Augenblick dachte, als du eintratest?« »Nein … « »Daran, mich hier wie in Barcelona mit Hilfe Asiens zum Erben einer reichen Frömmlerin zu machen … « »Ein Verbrechen?« »Mir blieb nur noch dieser Ausweg, um dein Glück zu sichern. Die Gläubiger regen sich. Wärst du erst von den Gerichtsvollziehern verfolgt und aus dem Hotel Grandlieu verjagt, was wäre da aus dir geworden? Für den Teufel wäre der Tag des Verfalls gekommen.«

Carlos Herrera malte durch eine Geste den Selbstmord eines Mannes, der sich ins Wasser wirft; dann heftete er einen jener starren und durchdringenden Blicke auf Lucien, die dem Willen der Starken Eingang verschaffen in die Seele der Schwachen. Dieser Zauberblick, der die Wirkung hatte, daß er jeden Widerstand brach, verriet, daß Lucien und seinen Ratgeber nicht nur Geheimnisse um Leben und Tod verbanden, sondern auch Empfindungen, die ebenso hoch über den gewöhnlichen Empfindungen standen, wie dieser Mensch über der Gemeinheit seiner Stellung.

Er war gezwungen, außerhalb der Welt zu leben, in die wieder einzutreten das Gesetz ihm auf ewig verbot, das Laster und wütender, furchtbarer Widerstand hatten ihn erschöpft, aber er war mit einer Kraft der Seele begabt, die an ihm nagte; und so lebte diese unedle und große, obskure und berühmte Persönlichkeit, verzehrt vor allem von fieberhaftem Lebensdrang, im eleganten Körper Luciens wieder auf, dessen Seele die seine geworden war. Er ließ sich im sozialen Leben von diesem Dichter vertreten, dem er seine zähe Kraft und seinen ehernen Willen lieh. Für ihn war Lucien mehr als ein Sohn, mehr als eine geliebte Frau, mehr als eine Familie, mehr als sein Leben: er war seine Rache; und da starke Seelen mehr an einer Empfindung festhalten als am Dasein, so hatte er ihn durch unlösliche Bande an sich gefesselt.

Nachdem er in dem Augenblick, als der verzweifelte Dichter einen Schritt zum Selbstmord tat, Luciens Leben gekauft hatte, hatte er ihm einen jener Höllenpakte vorgeschlagen, die man fast nur aus Romanen kennt, deren furchtbare Möglichkeit aber durch berühmte Justizdramen oft vor Gericht erwiesen wurde. Indem er alle Freuden des Pariser Lebens über Lucien ausschüttete, indem er ihm bewies, daß er sich immer noch eine schöne Zukunft schaffen konnte, hatte er aus ihm sein Werkzeug gemacht. Kein Opfer fiel übrigens diesem seltsamen Menschen schwer, sobald es sich um sein zweites Selbst handelte. Trotz all seiner Kraft war er den Launen seines Geschöpfes gegenüber so schwach, daß er ihm schließlich seine Geheimnisse anvertraut hatte. Vielleicht war diese rein moralische Mitschuld nur ein Band mehr zwischen ihnen! Seit dem Tage, an dem Esther entführt worden war, wußte Lucien, auf welcher furchtbaren Grundlage sein Glück ruhte.

Die Soutane des spanischen Priesters verbarg Jakob Collin, eine der Berühmtheiten des Bagno, die vor zehn Jahren unter dem bürgerlichen Namen Vautrin im Hause Vauquer wohnte, in dem auch Rastignac und Bianchon in Pension waren. Jakob Collin, genannt ›Betrüg-den-Tod‹, der aus Rochefort fast unmittelbar nach seiner Wiedergefangennahme ausgebrochen war, machte sich das Beispiel des berühmten Grafen von Sankt Helena zunutze, doch vermied er alles, was an der verwegenen Aktion Coignards fehlerhaft gewesen war. Sich selbst an die Stelle eines ehrlichen Mannes setzen und dabei das Leben eines Sträflings fortführen, das ist eine Aufgabe, deren beide Ziele zu widerspruchsvoll sind, um nicht eine verhängnisvolle Entwicklung zu nehmen, vor allem in Paris; denn wenn ein Verurteilter sich in eine Familie verpflanzt, so verzehnfacht er die Gefahren dieser Unterschiebung. Muß man sich nicht, um vor jeder Forschung sicher zu sein, eine Stellung hoch über den gewöhnlichen Interessen des Lebens suchen? Ein Mann der Gesellschaft ist Zufällen ausgesetzt, die selten auf den Leuten lasten, wenn sie nicht mit der Gesellschaft in Fühlung sind. Deshalb ist die Soutane die sicherste Verkleidung, wenn man sie durch ein exemplarisches, einsames und tatenloses Leben ergänzen kann. »Ich werde also Priester werden,« sagte sich dieser bürgerlich Tote, der durchaus unter einer sozialen Gestalt wiederaufleben wollte, um Leidenschaften zu befriedigen, die ebenso unheimlich waren wie er.

Der Bürgerkrieg, den die Verfassung von 1812 in Spanien entfachte, wohin dieser Mann der Tatkraft sich begeben hatte, lieferte ihm die Gelegenheit, den wirklichen Carlos Herrera in einem Hinterhalt zu töten. Dieser Priester, der Bastard eines großen Herrn, seit langem von seinem Vater im Stich gelassen, war von König Ferdinand VII., dem ein Bischof ihn empfohlen hatte, mit einer politischen Mission in Frankreich betraut worden. Der Bischof, der einzige Mensch, der sich für Carlos Herrera interessierte, starb, während dieser verlorene Posten die Reise von Cadiz nach Madrid und von Madrid nach Frankreich machte. Glücklich über die so lange ersehnte Begegnung mit dieser Individualität, die obendrein ein Amt bekleidete, wie er es wollte, brachte Jakob Collin sich auf dem Rücken Wunden bei, um die verhängnisvollen Brandmale auszulöschen; und sein Gesicht verwandelte er mit Hilfe chemischer Reagenzien. Indem er sich so vor dem Leichnam des Priesters entstellte, ehe er ihn vernichtete, konnte er sich einige Ähnlichkeit mit seinem Doppelgänger geben. Um diese Verwandlung, die fast ebenso wunderbar war wie jene in dem arabischen Märchen, wo der Derwisch die Macht erlangt hat, mit Hilfe magischer Worte in einen jungen Leichnam einzudringen, vollkommen zu machen, lernte der Sträfling, der spanisch sprach, genau so viel Lateinisch, wie ein andalusischer Priester wissen mußte. Als Bankier der drei Bagnos war Collin reich, da man alle Depositen seiner bekannten Ehrlichkeit anvertraut hatte, die übrigens auch erzwungen war: denn unter solchen Partnern wird ein Irrtum mit Dolchstichen bezahlt. Mit diesen Geldern vereinigte er die Summe, die der Bischof Carlos Herrera gegeben hatte. Ehe er Spanien verließ, konnte er sich in Barcelona des Schatzes einer frommen Frau bemächtigen, der er die Absolution erteilte, indem er ihr versprach, die Summen zurückzuerstatten, die sie mit Hilfe eines von ihr begangenen Mordes gestohlen hatte und aus denen das Vermögen seines Beichtkindes stammte. So war Jakob Collin Priester geworden und mit einer geheimen Mission betraut, die ihm die einflußreichsten Empfehlungen in Paris eintragen mußte; er war entschlossen, nichts zu tun, was den Charakter, den er sich umgehängt hatte, kompromittieren konnte, und überließ sich also den Zufällen seines neuen Daseins, als er auf der Straße von Angoulême nach Paris Lucien traf. Dieser Junge schien dem falschen Abbé ein wundervolles Werkzeug der Macht zu sein; er rettete ihn vor dem Selbstmord, indem er zu ihm sagte: ›Überantworten Sie sich einem Manne Gottes, wie man sich dem Teufel überantwortet, und Sie sollen alle Aussichten eines neuen Lebens haben. Sie werden leben wie im Traum, und das schlimmste Erwachen ist höchstens der Tod, den Sie sich geben wollten … ‹

Das Bündnis dieser beiden Wesen, die nur eins ausmachen sollten, beruhte auf dieser kraftvollen Gedankenreihe, die Carlos Herrera übrigens noch durch eine schlau herbeigeführte Mitschuld besiegelte. Da er mit dem Genie des Verführers begabt war, so vernichtete er Luciens Ehrlichkeit, indem er ihn in grausame Zwangslagen brachte und ihn daraus erlöste, indem er ihn stillschweigend in schlimme oder ehrlose Handlungen einwilligen ließ, bei denen er jedoch in den Augen der Welt stets rein, offenherzig und edel dastehen blieb. Lucien war der soziale Glanz, in dessen Schatten der Fälscher leben wollte. ›Ich bin der Verfasser, du sollst das Drama sein; wenn du keinen Erfolg hast, so wird man mich auszischen,‹ sagte er ihm an dem Tage, als er ihm die Kirchenschändung seiner Verkleidung anvertraute.

Seiten unter scheinbarer Freundschaft die Furcht verbarg. Im Augenblick der Gefahr hätte Rastignac offenbar mit größtem Vergnügen den Wagen geliefert, der Betrüg-den-Tod zum Schafott führen sollte. Jeder wird jetzt erraten, von welcher finstern Freude Carlos ergriffen wurde, als er von der Liebe des Barons von Nucingen erfuhr, denn er erkannte mit einem einzigen Blick, welchen Nutzen ein Mann seiner Art aus der armen Esther ziehen konnte.

»Geh,« sagte er zu Lucien, »der Teufel schützt seinen Almosenpfleger.« »Du rauchst auf einem Pulverfaß!« »Incedo per ignes!« erwiderte Carlos lächelnd, »das ist mein Beruf.«

Das Haus Grandlieu hat sich um die Mitte des letzten Jahrhunderts in zwei Zweige gespalten: erstens das herzogliche Haus, das dem Erlöschen geweiht ist, weil der gegenwärtige Herzog nur Töchter hat; zweitens die Vicomtes von Grandlieu, die Titel und Wappen ihrer älteren Linie erben werden. Der herzogliche Zweig führt im roten Felde drei in einer Reihe angeordnete goldene Streitäxte mit dem berühmten ›Caveo non timeo‹, das die ganze Geschichte dieses Hauses enthält. Der Schild der Vicomtes ist gevierteilt und zeigt im roten Felde den zinnenbesetzten goldenen Balkenstreifen; er ist bekrönt mit dem Ritterhelm; die Devise lautet: ›Grands faits, Grand lieu!‹ Die gegenwärtige Vicomtesse, die seit 1813 Witwe ist, hat einen Sohn und eine Tochter. Obwohl sie aus der Verbannung fast ruiniert zurückkam, hat sie doch infolge der Ergebenheit eines Anwalts, Dervilles, ein ziemlich beträchtliches Vermögen zurückgewonnen.

Der Herzog und die Herzogin von Grandlieu waren 1804 nach Frankreich heimgekehrt, und sie wurden alsbald zum Gegenstand der Koketterien des Kaisers; Napoleon gab denn auch, als er sie an seinem Hofe sah, durfte, um dann ›Herr von Rubempré‹ melden zu hören, und zwar in dem großen Salon im Stil Ludwigs XIV., der zur Zeit Ludwigs XIV. nach dem Muster derer von Versailles eingerichtet worden war, und in dem sich jene auserlesene Gesellschaft, die ›Crème‹ von Paris befand, die man damals, ›le petit Château‹ nannte.

Die vornehme Portugiesin, eine der Frauen, die es am wenigsten liebten, ihr Haus zu verlassen, war meist von ihren Nachbarn, den Chaulieus, den Navarreins und den Lenoncourts, umgeben. Oft kamen die hübsche Baronin von Macumer (geborene von Chaulieu), die Herzogin von Maufrigneuse, Frau d'Espard, Frau von Camps und Fräulein Des Touches, die mit den Grandlieus – sie stammen aus der Bretagne – verschwägert war, zu Besuch, wenn sie zu einem Ball gingen oder aus der Oper kamen. Der Vicomte von Grandlieu, der Herzog von Rhétoré, der Marquis von Chaulieu, der eines Tages Herzog von Lenoncourt-Chaulieu werden sollte, seine Frau, Madeleine von Mortsauf, die Enkelin des Herzogs von Lenoncourt, der Marquis von Ajuda-Pinto, der Fürst von Blamont-Chauvry, der Marquis von Beauséant, der Stiftsamtmann von Pamiers, die Vandenesses, der alte Fürst von Cadignan und sein Sohn, der Herzog von Maufrigneuse waren die Stammgäste dieses großartigen Salons, in dem man Hofluft atmete und in dem sich die Manieren, der Ton und der Geist dem Adel der Hausherrn anpaßten, deren große, aristokratische Haltung ihre napoleonische Knechtschaft schließlich in Vergessenheit gesenkt hatte.

Die alte Herzogin von Uxelles, die Mutter der Herzogin von Maufrigneuse, war das Orakel dieses Salons, zu dem Frau von Sérizy nie hatte Zutritt erlangen können, obwohl sie eine geborene von Ronquerolles war.

Von Frau von Maufrigneuse eingeführt, die ihre Mutter zu einer Aktion zugunsten Luciens bewogen hatte, da sie zwei Jahre lang wahnsinnig in ihn vernarrt gewesen war, hielt dieser verführerische Dichter sich dort dank dem Einfluß des Almosenpflegeramts von Frankreich und mit Hilfe des Erzbischofs von Paris. Freilich ließ man ihn erst zu, als er die Ordonnanz erhalten hatte, die ihm den Namen und das Wappen der Rubemprés zurückgab. Der Herzog von Rhétoré, der Chevalier d'Espard und ein paar andere, die auf Lucien eifersüchtig waren, nahmen den Herzog von Grandlieu von Zeit zu Zeit gegen ihn ein, indem sie ihm Anekdoten aus Luciens Vorleben erzählten. Aber die fromme Herzogin, die bereits von den Spitzen der Kirche umgeben war, und Klotilde von Grandlieu stützten ihn. Lucien erklärte jene Feindschaften übrigens durch sein Abenteuer mit der Cousine der Frau d'Espard, mit Frau von Bargeton, die seither Gräfin du Châtelet geworden war. Und da er empfand, wie notwendig es war, daß eine so mächtige Familie ihn aufnahm, zumal sein intimer Ratgeber ihn drängte, Klotilde zu verführen, so fand Lucien den Mut der Emporkömmlinge: er erschien an fünf Tagen von den sieben der Woche, schluckte artig die Beleidigungen des Neids hinunter, ertrug unverschämte Blicke und antwortete geistreich auf alle Spöttereien. Seine Beharrlichkeit, der Reiz seiner Manieren und seine Gefälligkeit stumpften schließlich die Bedenken ab und verringerten die Hindernisse. Als ein Mann, der mit der Herzogin von Maufrigneuse immer noch vortrefflich stand – die glühenden Briefe, die sie im Laufe ihrer Leidenschaft geschrieben hatte, bewahrte Carlos Herrera auf –, als Idol der Frau von Sérizy lernte Lucien, der bei Fräulein Des Touches gern gesehen wurde und zufrieden war, wenn man ihn in diesen drei Häusern empfing, von dem Abbé, in seinen Beziehungen die größte Vorsicht walten zu lassen.

›Man kann sich nicht mehreren Häusern zugleich widmen,‹ sagte ihm sein intimer Ratgeber. ›Wer über all hingeht, findet nirgends lebhaftes Interesse. Die Großen begönnern nur die, die mit ihren Möbeln wetteifern, die sie jeden Tag sehen und die für sie so notwendig zu werden wissen wie der Diwan, auf den man sich setzt.‹

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