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Synnöve Solbakken: Erzählung
Synnöve Solbakken: Erzählung

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Synnöve Solbakken: Erzählung

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Язык: Немецкий
Год издания: 2017
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Synnöve Solbakken: Erzählung

1

In einem weiten Tal findet man zuweilen eine nach allen Seiten hin freiliegende Erhöhung, auf die die Sonne ihre Strahlen vom Aufgang bis zum Untergang hinabsendet. Und die, die hart am Fuße der Berge wohnen und weniger Sonne haben, nennen eine solche Stelle einen Sonnenhügel. Die, von der hier erzählt werden soll, wohnte auf einem solchen, von dem auch der Hof seinen Namen erhalten hatte. Dort blieb der Schnee zuletzt liegen im Herbst, dort schmolz er auch im Frühling zuerst wieder.

Die Besitzer des Hofes waren Haugianer und wurden Leser genannt, weil sie eifriger in der Bibel lasen als alle andern Leute. Der Mann hieß Guttorm und die Frau Karen; sie bekamen einen Knaben, der wieder starb, und drei Jahre lang kamen sie nicht an die Ostseite der Kirche. Nach dieser Zeit bekamen sie ein Mädchen, das sie nach dem Knaben nannten; er hatte Syvert geheißen, und sie wurde Synnöv getauft, da sie nichts Näherliegendes fanden. Die Mutter aber nannte sie Synnöve, weil sie, solange das Kind klein war, die Gewohnheit hatte, »mein« hinten an den Namen anzuhängen, und meinte, daß es so leichter auszusprechen sei. Wie es nun auch sein mochte: als das Mädchen größer wurde, nannten sie alle Synnöve wie die Mutter, und die meisten sagten, seit Menschengedenken sei im ganzen Kirchspiel kein so schönes Mädchen herangewachsen wie Synnöve Solbakken1. Sie war noch ganz klein, als die Eltern sie an jedem Sonntag, wo gepredigt wurde, mit in die Kirche nahmen, obwohl Synnöve anfangs nichts weiter begriff, als daß der Pfarrer dastand und den Zuchthaus-Bert ausschalt, den sie gerade unter der Kanzel sitzen sah. Der Vater aber wollte, daß sie mitgehn sollte, »um sich zu gewöhnen«, wie er sagte; und die Mutter wollte es auch, »da man ja nicht wissen konnte, ob daheim jemand acht auf sie gebe«. War auf dem Hofe ein Lamm, ein Zicklein oder ein kleines Ferkel, das nicht gedeihen wollte, oder eine Kuh, der etwas fehlte, so ward das betreffende Tier immer Synnöve zu eigen gegeben, und die Mutter wollte wissen, daß es sich von der Stunde an erhole; der Vater glaubte nicht so recht, daß es daher käme, aber »es war ja einerlei, wem von ihnen das Vieh gehörte, wenn es nur gedieh«.

Jenseits des Tals und hart am Fuße des hohen Berges lag ein Hof, der Granliden hieß, weil er mitten in einem großen Tannenwalde lag, dem einzigen in weitem Umkreise. Der Urgroßvater des Besitzers war mit unter denen gewesen, die in Holstein gelegen und auf die Russen gewartet hatten, und von diesem Zuge hatte er viele fremde und merkwürdige Sämereien in seinem Tornister mit heimgebracht. Die hatte er rings um seine Hofgebäude gepflanzt; im Laufe der Zeiten war aber eine Pflanze nach der andern ausgegangen, nur einige Tannenzapfen, die merkwürdigerweise dazwischengekommen waren, waren zu einem dichten Walde herangewachsen und beschatteten nun die Gebäude von allen Seiten. Der Holsteinfahrer hatte nach seinem Großvater Thorbjörn geheißen, sein ältester Sohn nach seinem Vater Sämund, und so hatten auf diesem Hofe die Besitzer abwechselnd Thorbjörn und Sämund geheißen – seit unvordenklichen Zeiten. Aber die Sage ging, daß in Granliden nur jeder zweite Mann Glück habe, und das war nicht der, der Thorbjörn hieß. Als der jetzige Besitzer, Sämund, den ersten Sohn bekam, machte er sich allerlei Gedanken darüber, wagte aber doch nicht, die Familientradition zu durchbrechen, und so nannte er ihn denn Thorbjörn. Er grübelte nun darüber, ob der Knabe nicht so erzogen werden könnte, daß er an dem Steine, den ihm das Schicksal und das Gerede der Leute in den Weg gelegt hatten, glücklich vorüberkommen könnte. Er war sich nicht ganz sicher, aber er glaubte, einen widerspenstigen Sinn bei dem Knaben zu spüren. »Das muß ausgetrieben werden,« sagte er zu der Mutter, und sobald Thorbjörn drei Jahre alt geworden war, setzte sich der Vater oft mit einer Rute in der Hand hin, zwang ihn, alle Holzscheite wieder auf ihren Platz zu legen, die Tasse wieder aufzuheben, die er hinuntergeworfen, die Katze zu streicheln, die er gekniffen hatte. Die Mutter pflegte hinauszugehn, wenn den Vater diese Laune anwandelte.

Sämund wunderte sich darüber, daß, je größer der Knabe ward, um so mehr an ihm zu tadeln war, und das, obgleich er immer strenger behandelt wurde. Er hielt ihn frühzeitig zum Lesen an und nahm ihn mit aufs Feld, um ihn unter Augen zu haben. Die Mutter hatte einen großen Haushalt und kleine Kinder, sie konnte nichts weiter tun, als den Sohn streicheln und ihm jeden Morgen, wenn sie ihn ankleidete, gute Ermahnungen geben und freundlich mit dem Vater reden, wenn sie an Sonn- und Feiertagen zusammensaßen. Thorbjörn aber dachte, wenn er Schläge bekam, weil ab nicht »ba«, sondern »ab« hieß, und weil er die kleine Ingrid nicht prügeln durfte, wie der Vater ihn prügelte: Es ist doch merkwürdig, daß ich es so schlecht haben soll, während alle meine kleinen Geschwister es so gut haben!

Da er meistens bei dem Vater war und nicht wagte, sonderlich viel mit ihm zu reden, wurde er wortkarg, obwohl er keineswegs gedankenarm war. Einmal, als sie das nasse Heu wendeten, entschlüpfte es ihm jedoch: »Weshalb ist alles Heu da drüben auf Solbakken trocken und eingefahren, während es hier naß ist?« – »Weil sie mehr Sonne haben als wir.« – Es war dies das erstemal, daß es ihm zum Bewußtsein kam, daß er selber von dem Sonnenglanz da drüben, über den er sich so oft gefreut hatte, ausgeschlossen sei. Seit jenem Tage war sein Blick öfter nach Solbakken hinübergerichtet als bisher. – »So sitz doch nicht da und gaffe,« sagte der Vater und versetzte ihm einen Puff; »hier unten müssen wir uns abmühen, soviel wir können, groß und klein, wenn wir etwas unter Dach und Fach haben wollen.«

Als Thorbjörn etwa sieben oder acht Jahre alt sein mochte, wechselte Sämund seinen Knecht. Der neue hieß Aslak, und er war, wie es schien, schon weit in der Welt herumgekommen, obwohl er hier nur Kleinknecht war. An dem Abend, als er kam, war Thorbjörn schon zu Bett gegangen, aber am nächsten Tage, als er dasaß und lernte, schlug jemand die Tür mit einem solchen Fußstoß auf, wie er es noch nie gehört hatte, und das war Aslak, der mit einem großen Arm voll Holz hereingepoltert kam und es mit einer solchen Gewalt zu Boden warf, daß die Scheite nach allen Seiten auseinanderflogen. Er selber sprang hoch in die Luft, um den Schnee abzuschütteln, und bei jedem Sprung rief er: »›Es ist kalt,‹ sagte die Braut des Kobolds, als sie bis an den Gürtel im Eis steckte.« – Der Vater war nicht zu Hause – die Mutter aber fegte den Schnee zusammen und trug ihn stillschweigend hinaus. – »Wonach glotzt du denn da?« fragte Aslak Thorbjörn. – »Nach nichts Besonderm,« erwiderte dieser, denn er fürchtete sich. – »Hast du den Hahn gesehn, den du da hinten im Buche hast?« – »Ja!« – »Er hat eine Menge Hühner um sich, wenn das Buch zu ist; hast du das gesehn?« – »Nein!« – »Nun, so sieh nach!« – Der Knabe tat es. – »Du bist ein Schafskopf,« sagte Aslak. Aber seit diesem Augenblick hatte niemand eine solche Macht über ihn wie Aslak.

»Du weißt gar nichts,« sagte Aslak eines Tages zu Thorbjörn. – Dieser trippelte wie gewöhnlich hinter ihm drein, um achtzugeben. – »Doch, ich weiß bis zum vierten Hauptstück.« – »Pah! Du hast ja nicht einmal von dem Kobold gehört, der so lange mit der Dirne tanzte, bis die Sonne unterging, und dann platzte wie ein Kalb, das saure Milch gefressen hat!« – Sein ganzes Leben lang hatte Thorbjörn noch nicht so viel Gelehrsamkeit auf einmal gehört. »Wo war denn das?« fragte er. – »Wo? – ja, das – war drüben auf Solbakken!« – Thorbjörn starrte ihn an. – »Hast du von dem Manne gehört, der sich dem Teufel für ein Paar alte Stiefel verkaufte?« – Thorbjörn vergaß zu antworten, so verwundert war er. – »Du denkst wohl darüber nach, wo das geschehen sein mag, he? Das war auch drüben auf Solbakken, da unten an dem Bach, den du da siehst! – Du großer Gott! Sieht das aber traurig aus mit deinem Christentum,« fuhr er fort. »Du hast wohl nicht einmal von Kari mit dem hölzernen Rock gehört?« – Nein, er hatte nichts davon gehört. Und während Aslak jetzt eifrig arbeitete, erzählte er noch eifriger, nämlich von Kari mit dem hölzernen Rock und von der Mühle, die auf dem Meeresgrunde Salz mahlte, von dem Teufel mit den Holzschuhen, von dem Kobold, der mit dem Bart in dem Baumstamm hängen blieb, von den sieben grünen Jungfrauen, die dem Schützenpeter die Haare aus den Waden zwickten, während er schlief, und durchaus nicht aufwachen konnte, und das alles trug sich drüben auf Solbakken zu.

»Was in Gottes Namen ist nur mit dem Jungen los?« sagte die Mutter am nächsten Tage. »Den ganzen Morgen, seit es hell geworden ist, hat er auf den Knien auf der Bank gelegen und nach Solbakken hinübergestarrt.« – »Ja, er hat es heute sehr damit,« sagte der Vater, der dalag und sich den lieben langen Sonntag ausruhte. – »Die Leute sagen, er sei mit Synnöve Solbakken verlobt,« sagte Aslak; »aber die Leute sagen ja immer soviel,« fügte er hinzu. Thorbjörn verstand es nicht so recht, errötete aber doch über das ganze Gesicht. Als Aslak die andern hierauf aufmerksam machte, kroch er von der Bank herab, nahm seinen Katechismus und begann darin zu lesen. – »Ja, tröste du dich nur mit Gottes Wort, du,« sagte Aslak; »du bekommst sie doch nicht.«

Späterhin im Laufe der Woche, als er glaubte, daß sie es vergessen hätten, fragte er die Mutter ganz leise, denn er war ein wenig verschämt: »Du – wer ist Synnöve Solbakken?« – »Das ist ein kleines Mädchen, das einst Besitzerin von Solbakken werden wird.« – »Hat sie denn keinen hölzernen Rock?« – Die Mutter sah ihn verwundert an. »Was sagst du da?« fragte sie. Er fühlte, daß es etwas Dummes sein müßte, und schwieg. – »Niemand hat je ein schöneres Kind gesehn, als sie ist,« fuhr die Mutter fort, »und der liebe Gott hat sie so gemacht zur Belohnung dafür, daß sie immer so artig und brav ist und so fleißig lernt.« – Jetzt wußte er das auch.

Eines Tages, als Sämund mit Aslak auf dem Felde gewesen war, sagte er am Abend zu Thorbjörn: »Du sollst nicht so oft mit dem Knecht zusammen sein.« – Thorbjörn aber achtete nicht weiter darauf. Nach einer Weile hieß es: »Wenn ich dich noch einmal mit ihm zusammen sehe, geht es dir schlecht!« Da schlich Thorbjörn ihm nach, wenn es der Vater nicht sah. Dieser überraschte sie aber, als sie beieinander saßen und schwatzten; da bekam Thorbjörn Prügel und wurde hineingejagt. Von nun an aber paßte Thorbjörn Aslak auf, wenn der Vater nicht zu Hause war.

Eines Sonntags, als der Vater in der Kirche war, machte Thorbjörn zu Hause Unfug. Aslak und er warfen einander mit Schneebällen. – »Nein, nein, du erstickst mich noch,« bat Thorbjörn; »laß uns zusammen nach was anderm werfen.« – Aslak war gleich dazu bereit, und so warfen sie denn erst nach der kleinen Tanne neben dem Vorratshause, dann nach der Tür und endlich nach dem Fenster des Vorratshauses. – »Nicht nach dem Fenster selber,« sagte Aslak, »sondern nach dem Rahmen!« – Thorbjörn traf aber das Fenster und erbleichte. – »Pah! Wer erfährt das? Wirf besser!« – Er warf abermals, traf aber wieder eine Fensterscheibe. – »Jetzt werfe ich nicht mehr,« sagte er. – In demselben Augenblick kam seine älteste Schwester, klein Ingrid, heraus. »Wirf nach ihr!« – Thorbjörn war gleich bereit, die Kleine schrie, und die Mutter kam heraus. Sie befahl ihm, mit dem Werfen aufzuhören. »Wirf! Wirf!« flüsterte Aslak. Thorbjörn war heiß und aufgeregt; er tat es. – »Ich glaube, du hast deinen Verstand verloren,« sagte die Mutter und lief auf ihn zu. Er entwischte ihr, sie lief hinter ihm drein – rund um den Hof herum; Aslak lachte, und die Mutter drohte. Aber endlich gelang es ihr, ihn in einer Schneewehe zu fassen, und sie schickte sich an, ihn gehörig durchzuprügeln. – »Ich schlage wieder – das tu ich – das ist hier so Sitte.« – Die Mutter hielt verwundert inne und sah ihn an. »Das hat dich ein andrer gelehrt,« sagte sie dann, nahm ihn stillschweigend bei der Hand und führte ihn hinein. Sie sagte kein Wort mehr zu ihm, sondern beschäftigte sich freundlich mit den kleinen Geschwistern und erzählte ihnen, daß der Vater jetzt gleich aus der Kirche heimkehre. Da begann es entsetzlich heiß in der Stube zu werden. Aslak bat um die Erlaubnis, einen Verwandten besuchen zu dürfen; er erhielt sie sogleich. Thorbjörn aber wurde sehr klein, sobald Aslak gegangen war. Er hatte schreckliche Magenschmerzen, und seine Hände waren so feucht, daß sie am Buche festklebten, wenn er es anfaßte. Wenn nur die Mutter dem Vater nichts sagen wollte, wenn er nach Hause käme, aber sie darum zu bitten, das brachte er nicht fertig. Alles um ihn her hatte sich verändert, und die Stubenuhr sagte: »Prügel, Prügel – Prügel, Prügel!« Er mußte aufs Fenster hinaufklettern und nach Solbakken hinübersehn. Es lag verschneit, einsam und friedlich da und lachte wie immer im Sonnenschein; das Haus stand da und blitzte aus allen Fenstern, und dort war sicher nicht ein einziges zerschlagen; übermütig, fröhlich stieg der Rauch aus dem Schornstein auf, sicher wurde dort auch für die Kirchgänger gekocht. Synnöve schaute wohl nach ihrem Vater aus und sollte sicher keine Schläge haben, wenn der heimkehrte. Er wußte nicht, was er anfangen sollte, und wurde plötzlich so liebevoll gegen seine Schwestern, daß er kein Ende fand. Gegen Ingrid war er so gut, daß er ihr einen blanken Knopf schenkte, den er von Aslak bekommen hatte. Sie umarmte ihn, und auch er schlang seine Arme um ihren Hals. – »Meine liebe kleine Ingrid, bist du mir auch böse?« – »Nein, lieber Thorbjörn, du kannst mich meinetwegen so viel schneeballen, wie du willst.« – Aber da stampfte sich jemand draußen den Schnee von den Füßen. Richtig, es war der Vater; er sah so sanft und freundlich aus, und das war noch schlimmer. – »Nun?« sagte er und sah sich um – es war ein Wunder, daß die Wanduhr nicht herabstürzte! Die Mutter trug das Essen auf. – »Wie steht es denn hier?« fragte der Vater, indem er sich hinsetzte und den Löffel ergriff.

Thorbjörn sah die Mutter an, bis ihm die Tränen in die Augen kamen. – »Ach, ganz gut,« sagte sie unglaublich langsam, und sie wollte noch mehr sagen, das sah er deutlich. – »Ich habe Aslak erlaubt, auszugehn,« sagte sie. – »Das ist nur der Anfang,« dachte Thorbjörn und fing an mit Ingrid zu spielen, als denke er an nichts weiter in der Welt. So lange hatte der Vater niemals gegessen, und Thorbjörn fing schließlich an jeden Bissen zu zählen; als er aber an den vierten kam, wollte er sehn, wie weit er zwischen dem vierten und fünften zählen könnte, und dadurch kam er aus dem Zählen heraus. Endlich erhob sich der Vater und ging hinaus. – »Die Fensterscheiben! die Fensterscheiben!« klang es ihm in den Ohren, und er sah sich um, ob die in der Stube alle heil seien. Ja, sie waren alle heil. Aber nun ging auch die Mutter hinaus. Thorbjörn nahm die kleine Ingrid auf den Schoß und sagte so sanft, daß sie ihn ganz verwundert anstarrte: »Wir beide wollen einmal Goldkönigin auf der Wiese spielen, wir!« – Das wollte sie gern. Und dann sang er, während ihm die Beine schlotterten:

»Kleine Blume,Wiesenblume,Hör mich einmal an:Willst du meine Liebste sein,Schenk ich dir ein Mantel feinAus Samt und Gold,Von Perlen voll.Ditteli, dutteli, döh,Die Sonne scheint auf der Höh.«

Und sie antwortete:

»Goldkönigin,Perlenkönigin,Hör mich einmal an:Ich will sein die Liebste dein,Will haben auch den Mantel feinAus Samt und Gold,Von Perlen voll.Ditteli, dutteli, döh,Die Sonne scheint auf der Höh.«

Als nun aber dies Spiel gerade im besten Gange war, kam der Vater herein und sah ihn forschend an. Er preßte Ingrid fester an sich und fiel gar nicht vom Stuhl! Der Vater wandte sich ab und sagte kein Wort; eine halbe Stunde verging, und noch immer hatte er nichts gesagt – und Thorbjörn war nahe daran, ganz fröhlich zu werden, wagte es aber doch nicht. Er wußte nicht, was er davon denken sollte, als ihm der Vater selber beim Auskleiden half; er fing von neuem an zu zittern. Da fuhr ihm der Vater liebkosend über den Kopf und streichelte ihm die Wange; das hatte er nicht getan, solange der Knabe zurückdenken konnte, und deswegen wurde ihm so warm ums Herz und über den ganzen Leib, daß die Furcht aus seiner Seele schwand wie das Eis vor der Sonne. Er wußte nicht, wie er ins Bett kam, und da er sich weder durch Rufen noch durch Singen Luft machen konnte, faltete er still die Hände, betete sechsmal das Vaterunser ganz leise vorwärts und rückwärts – und fühlte, als er einschlief, daß es auf Gottes grüner Erde doch niemand gebe, den er so lieb hätte wie seinen Vater.

Am nächsten Tage erwachte er in furchtbarer Angst, weil er nicht schreien konnte, denn nun sollte er doch Prügel haben. Als er aber die Augen aufschlug, merkte er zu seiner großen Erleichterung, daß er es nur geträumt hatte, aber er merkte auch bald, daß gerade ein andrer Prügel haben sollte, nämlich Aslak. Sämund ging im Zimmer auf und nieder, und den Gang kannte Thorbjörn nur zu gut. Der ziemlich kleine, aber stämmige Mann sah von Zeit zu Zeit unter seinen buschigen Brauen so zu Aslak hinüber, daß dieser sehr wohl fühlte, was in der Luft lag; Aslak selber saß oben auf einem großen Faß und ließ seine Beine bald herabbaumeln, bald zog er sie unter sich in die Höhe. Er hatte wie gewöhnlich die Hände in den Taschen, und die Mütze auf dem Kopfe war leicht in die Stirn gedrückt, so daß das dicke, dunkle Haar in Büscheln unter dem Schirm hervorguckte. Der etwas schiefe Mund war heute noch schiefer als gewöhnlich, den ganzen Kopf hielt er ein wenig schief und sah Sämund unter halb geschlossenen Augenlidern von der Seite an. – »Ja, dein Junge ist nicht recht gescheit,« sagte er, »weit schlimmer aber ist es, daß dein Pferd verhext ist.« – Sämund blieb stehn. »Du bist ein Lümmel!« sagte er, daß es durch die Stube dröhnte und Aslak die Augenlider noch fester schloß. Sämund ging wieder auf und nieder, Aslak saß wieder eine Weile schweigend da. – »Ja, weiß Gott, es ist verhext!« – Er schielt von der Seite zu ihm hinüber, um zu sehn, welche Wirkung dies auf ihn mache. – »Nein, aber es ist bange vor dem Walde, das ist es,« sagte Sämund und schritt weiter auf und nieder. »Du hast im Felde einen Baum über das Tier gefällt, du nichtsnutziger Schlingel, und deswegen will es jetzt dort nicht mehr ruhig gehn.« – Aslak hörte das eine Weile an. – »Ja, ja! Glaub du das nur, der Glaube macht niemand zuschanden. Ich zweifle nur, daß er dein Pferd wieder kuriert,« fügte er hinzu, schob sich ein wenig höher auf die Tonne hinauf und bedeckte sein Gesicht mit der einen Hand. Sämund kam wirklich zu ihm hinüber und sagte in leisem, aber unheilverkündendem Tone: »Du bist ein schlechter –« – »Sämund!« ertönte eine Stimme vom Herde herüber. Es war Ingebjörg, seine Frau, die ihn beschwichtigte, wie sie ihr kleinstes Kind beschwichtigte, das bange war und schreien wollte. Das Kind hatte sie schon zum Schweigen gebracht, und nun schwieg auch Sämund, aber er hielt doch seine für einen so stämmigen Mann sehr kleine Faust Aslak gerade unter die Nase und hielt sie dort eine Weile, indem er sich vorbeugte und ihm seine zornsprühenden Augen ins Gesicht bohrte. Darauf schritt er wieder auf und nieder und sah von Zeit zu Zeit hastig zu ihm hinüber. Aslak war sehr bleich, grinste aber doch mit dem halben Gesicht zu Thorbjörn hinüber, während er die Seite, die er Sämund zugewandt hatte, ganz stramm hielt. – »Gott schenke uns Geduld!« sagte er nach einer Weile, hob aber in demselben Augenblick die Ellenbogen in die Höhe, als wollte er einen Schlag abwehren. Sämund blieb plötzlich stehn und schrie mit der ganzen Kraft seiner Stimme, indem er auf die Erde stampfte, so daß Aslak zusammenzuckte: »Nenne ihn nicht! – du! –« Ingebjörg sprang mit dem Säugling auf und faßte ihn sanft am Arm. Er sah sie nicht an, ließ aber doch sofort den Arm sinken. Sie setzte sich hin, er schritt von neuem auf und nieder; niemand aber sprach ein Wort. Als dies eine Weile gewährt hatte, konnte sich Aslak nicht länger bezwingen: »Jawohl, er hat hier auf Granliden freilich viel zu tun!« – »Sämund! Sämund!« flüsterte Ingebjörg; ehe das aber zu ihm drang, war Sämund schon auf Aslak losgerast, der den Fuß vorstreckte; den schlug er zurück, faßte den Burschen daran und am Rockkragen, hob ihn in die Höhe und warf ihn mit solcher Gewalt gegen die geschlossene Tür, daß die Füllung hinausfiel und er kopfüber durchflog. Die Mutter, Thorbjörn und alle Kinder schrien und baten für ihn, und das ganze Haus erscholl von Jammergeschrei. Sämund aber stürzte ihm nach, dachte nicht daran, die Tür gehörig aufzumachen, sondern stieß die Überbleibsel beiseite, nahm ihn nochmals auf, trug ihn von dem Vorbau auf den Hof hinaus, hob ihn hoch in die Höhe und warf ihn mit aller Gewalt nieder. Und als er merkte, daß da zu viel Schnee lag, als daß er sich hätte gründlich Schaden zufügen können, setzte er ihm das Knie auf die Brust und schlug ihn gerade ins Gesicht, packte ihn dann zum drittenmal, trug ihn wie ein Wolf, der einen zerrissenen Hund davonschleppt, an eine mehr schneefreie Stelle, schleuderte ihn noch heftiger zu Boden als zuerst, setzte ihm das Knie auf die Brust – und niemand weiß, wie dies geendet hätte, wenn nicht Ingebjörg mit dem Säugling im Arm dazwischengestürzt wäre. – »Mach uns nicht unglücklich!« schrie sie.

Eine Weile darauf saß Ingebjörg im Zimmer. Thorbjörn kleidete sich an, der Vater ging wieder auf und nieder, trank von Zeit zu Zeit ein wenig Wasser, aber die Hand zitterte ihm so, daß das Wasser über den Rand der Tasse floß und auf den Boden platschte. Aslak kam nicht zurück, und nach einer Weile schickte sich Ingebjörg an, hinauszugehn. – »Bleib hier,« sagte er in einem Ton, als spräche er nicht mit ihr, und sie blieb. Aber nach einiger Zeit ging er selber hinaus. Er kam nicht wieder. Thorbjörn nahm sein Buch und las unablässig ohne aufzusehn, obwohl er nicht einen einzigen Satz verstand.

Etwas später, am Vormittag, war das Haus wieder in seiner alten Ordnung, obgleich alle ein Gefühl hatten wie nach einem fremden Besuch. Thorbjörn wagte sich endlich hinaus, und der erste, der ihm an der Tür begegnete, war Aslak, der all sein Hab und Gut auf einen Schlitten gepackt hatte; der Schlitten aber gehörte Thorbjörn. Thorbjörn starrte ihn an, denn er sah schrecklich aus. Das Blut war ihm im Gesicht festgeklebt, und alle seine Kleider waren mit Blut beschmutzt. Er hustete und griff sich oft nach der Brust. Eine Weile sah er Thorbjörn schweigend an, dann rief er heftig: »Ich kann deine Augen nicht ausstehn, Junge!« – Damit spreizte er die Beine über den Schlitten, setzte sich und fuhr bergab. – »Du kannst sehn, wie du deinen Schlitten wiederkriegst!« sagte er und lachte, indem er sich noch einmal umwandte und ihm die Zunge ausstreckte. So zog Aslak von dannen.

Aber in der Woche, die nun folgte, kam der Vogt nach Granliden. Der Vater war oft abwesend, die Mutter weinte, und auch sie war mehrmals fort. »Was ist nur, Mutter?« – »Ach, Aslak ist an allem schuld.«

Und dann eines Tages ertappten sie die kleine Ingrid, wie sie dasaß und sang:

»O du glückselige Welt,Nun bist du mir ganz vergällt.Das Mädel streckt den Fuß hervor,Der Junge ist ein blöder Tor,Die Mutter Wassersuppen braut,Der Vater liegt auf der Bärenhaut.Die Katze ist noch die klügste im Haus,Sie leckt den Rahm im Topfe aus.«

Es wurde ein Verhör angestellt, wo sie das Stück Lied her hätte. Ja, sie hatte es von Thorbjörn gehört. Dieser wurde sehr ängstlich und sagte, Aslak habe es ihn gelehrt. Da erhielt er denn den Bescheid, daß er, wenn er selber solche Lieder sänge oder sie der Schwester beibrächte, sich auf eine Tracht Prügel gefaßt machen könne. Kurz darauf fing die kleine Ingrid an zu fluchen. Thorbjörn wurde abermals ins Verhör genommen, und Sämund meinte, es würde wohl das beste sein, wenn er gleich die Rute bekäme; aber er weinte und gelobte heilig und teuer, sich zu bessern, so daß er diesmal mit der Angst davonkam.

Am nächsten Sonntag, wo gepredigt wurde, sagte der Vater zu ihm: »Heute sollst du keine Gelegenheit haben, daheim Unheil anzustiften, du kannst mich in die Kirche begleiten.«

2

Die Kirche steht in den Gedanken des Bauern auf einer hohen Stelle und ganz für sich, weihevoll, die Feierlichkeit der Gräber ringsumher, den lebendigen Gottesdienst drinnen. Es ist das einzige Haus im ganzen Tal, worauf er Pracht verwandt hat, und ihr Turm ragt deswegen auch etwas höher empor, als er zu ragen scheint. Ihre Glocken begrüßen ihn schon aus der Ferne auf seinem Gange durch den klaren Sonntagmorgen, und er lüftet immer die Mütze, wenn er sie hört, als wollte er sagen: »Dank für das letztemal!« Es besteht ein Bündnis zwischen ihm und ihnen, das niemand kennt. In frühester Kindheit stand er wohl in der offnen Tür und lauschte ihrem Klang, während die Kirchgänger in stillem Zuge unten auf dem Wege vorübergingen; der Vater schloß sich ihnen an, aber er selbst war noch zu klein. Er verband damals mancherlei Vorstellungen mit diesem schweren, vollen Ton, der eine oder auch zwei Stunden die Herrschaft zwischen den Bergen hatte und von einer Felswand zur andern widerhallte; eins aber war unzertrennlich von diesem Getön: reine, neue Kleider, geschmückte Frauen, geputzte Pferde mit blitzendem Geschirr.

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